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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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an ihn zu erinnern. Es ging um die Hoffnung,
ich habe mich entschlossen, sie zu begraben.«
    »Wissen
Sie«, wandte ich ein. »Ich finde es etwas merkwürdig, dass Sie uns nach Dingen
fragen, in denen Sie viel mehr Erfahrung haben als wir.«
    »Ich
habe mehr Jahre hinter mir als Sie«, antwortete Brigitte Leblanc mit einem
sanften Lächeln. »Nicht mehr Erfahrung. Und ich glaube, jede Erfahrung in
diesem Zusammenhang ist einzigartig. Genau wie jedes Kind einzigartig ist und
jeder Mensch.«
    »Natürlich«,
sagte Winnie.
    »Es
mag vielleicht paradox klingen, aber ich bilde mir ein, dass... dass gerade
dieser Faktor des absoluten Unterschieds dazu führt, dass wir einander
verstehen und uns einander annähern können. Der dazu führt, dass wir es
versuchen müssen. Es fällt mir schwer, die rechten Worte dafür zu finden, und
ich weiß nicht so recht, ob klar wird, was ich meine?«
    »Ich
verstehe ganz genau, was Sie meinen«, antwortete Winnie sofort. »Wenn es nicht
diese Abgründe zwischen uns gäbe, warum sollten wir uns dann die Mühe machen,
die ganze Zeit Brücken zu bauen? Wenn wir uns am selben Ufer befänden?«
    Ich
spürte, dass es da plötzlich zwischen meiner Frau und dieser Brigitte Leblanc
ein Einverständnis gab, ob nun weiblicher oder rein menschlicher Natur, und
dass ich von diesem Einverständnis auf irgendeine Weise ausgeschlossen war. Was
ein sonderbares Gefühl war, wenn man bedachte, dass doch gerade die Rede davon
gewesen war, Brücken über Abgründe zu bauen, aber es schien, als wäre ich
plötzlich zu einer Illustration ihrer schnell und freudig zusammengezimmerten
gemeinsamen Plattform geworden.
    Aber
das kann auch eine traurige Einbildung und nicht mehr gewesen sein. »Wie hieß
Ihr Sohn?«, machte ich einen Versuch.
    »Richard.
Er hieß Richard.«
    »Ich
nehme an, Sie waren allein mit ihm, als er verschwand?«, fragte Winnie. Ich
weiß nicht, wie sie zu diesem Schluss kam, aber Brigitte Leblanc nickte
zustimmend.
    »Das
stimmt. Sein Vater starb, als Richard zehn war. Eine meiner Fragen an Sie beide
ist deshalb auch, wie Sie Ihre Beziehung nach dem, was passiert ist, erleben.
Auf welche Weise kann es eine Kraft bedeuten, zu zweit zu sein?«
    Ich
saß schweigend da und hoffte, dass Winnie etwas sagen würde.
    Winnie
saß auch schweigend da, und ich weiß nicht, worauf sie hoffte.
     
    Wir
blieben zwei Stunden in diesem Zimmer im Ambassade und sprachen mit Brigitte
Leblanc, aber im Nachhinein kann ich mich kaum noch an das weitere Gespräch
erinnern. Es waren vor allem Winnie und Brigitte Leblanc, die ihre Ansichten
austauschten - ausgehend von der gemeinsamen Plattform -, aber kurz bevor wir
fertig waren, kam Winnie mit einer Behauptung, die sowohl mich als auch die
Journalistin überraschte. Zumindest schien sie überrascht zu sein, und es war
anscheinend auch der Moment, in dem dieses paradoxe gemeinsame Einverständnis
sein Ziel erreichte. Ja, genau so möchte ich mich ausdrücken. Sein Ziel
erreichte.
    »Was
Sie da anfangs behauptet haben, dass man an einen gewissen Punkt gelangt«,
sagte Winnie auf ihre etwas zögerliche Art, und ich erinnere mich, dass sie
dabei weder mich noch Brigitte Leblanc ansah, als sie es sagte, sondern ihren
Blick aus dem Fenster schweifen ließ, auf die Baumkronen entlang des Kanals
oder was dort immer gewesen sein mag. »Dem kann ich zustimmen, aber nur zu
einem gewissen Teil. Es stimmt, dass man an so einen Punkt gelangt, aber die
Sache ist die, dass man, wenn man nachgibt, auch das Spiel verloren hat. Und
deshalb... ja, ganz einfach deshalb stimmt es, Ihr Sohn ist tot, es tut mir
leid, dass ich das so sagen muss, während unsere Tochter Sarah noch lebt.«
    »Ich
bin mir nicht sicher, dass...«, setzte Brigitte Leblanc an, aber als es ihr
nicht gelang, Winnies Blick einzufangen, der weiterhin mit den Baumkronen vor
dem Fenster zu spielen schien, verstummte sie wieder.
    Ich
versuchte wahrscheinlich etwas zu sagen, was die Wogen glätten sollte, und
wenige Minuten später verabschiedeten wir uns. Es gab dem nichts mehr
hinzuzufügen.
    Wir
haben von dieser Journalistin nie wieder etwas gehört, und Teil irgendeiner
Artikelreihe waren wir bis zu unserer Abreise nach New York auch nicht
geworden - doch was Winnies Art nachzudenken betrifft, so habe ich mehrere
Male, vielleicht besonders seit unserem Besuch im Hotel Ambassade, über das
Verhältnis zwischen ihren Gedanken und ihrem sprachlichen Ausdruck nachgedacht.
    Findet
sich darin wirklich ein Verständnis

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