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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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Abwesenheit von Licht, sie ist die Abwesenheit
von allem. Von Winnie, meiner geliebten Frau. Von Sarah, meiner noch
geliebteren Tochter. Von Möglichkeiten, Zielen und dem Sinn dieses verfluchten
Lebens, das sich mit schönen falschen Versprechungen und scheinbaren
Hoffnungen an uns klammert, das aber nichts anderes ist als eine chronische
Krankheit in Erwartung eines aufgeschobenen und ebenso sinnlosen Todes.
     
    Zwei
blinde Würmer,
    die
verweilen,
    die
verwundert
    den
Stimmen von oben lauschen.
     
    Und
ich bete. Bete dasselbe alte Gebet zu demselben alten Gott, das ich schon tausend
mal tausend Male gebetet habe, seit Sarah uns weggenommen wurde: Tausche ihr
Leben gegen meines! Lass sie
leben, lass sie
in geordneten Verhältnissen immer noch existieren, wozu um alles in der Welt es
auch gut sein soll, aber es ist wichtig, und du weißt, was ich meine, lieber
Gott, ich wage nicht, das Unaussprechliche zu sagen, lass sie zu einem ganzen, sinnvollen Menschen heranwachsen und
lege meinen eigenen Tod in die andere Waagschale.
    Immer
und immer wieder, bald jenseits der wortlosen Grenze, flehe ich um so eine
Entwicklung, und irgendwann muss ich während dieser monotonen Trauerarbeit auch
eingeschlafen sein, denn ich wache mit einem Ruck im grauen Licht der
morgendlichen Dämmerung auf, auf sonderbare Art und Weise hellwach und
zielstrebig. Oder doch eher verrückt oder, warum auch nicht, erhört? Ich nehme
die Remington Shackville
212 mit die Treppe hinunter, finde im Vorratsraum Marbury's
Cookies, gehe in geliehenen Gummistiefeln hinaus in den
Wald und feuere zwölf schwere Schüsse in einen Kiefernstamm.
     
    38
     
    Anfang
Juni - dreizehn Monate, nachdem Sarah verschwand, und knapp zwei Monate, bevor
wir uns in das Flugzeug nach New York setzten - wurde ich von einer
Journalistin angerufen, die über uns schreiben wollte.
    Sie
hieß Brigitte Leblanc und plante eine Serie von Artikeln über Kinder, die auf
irgendeine Art und Weise verschwunden waren. Besonders hatte sie die
Trauerarbeit im Fokus, die Frage, wie Eltern es schafften, ihr Leben
weiterzuleben.
    Ich
erklärte ihr, dass wir wahrscheinlich nicht interessiert waren, ich die Sache
aber mit meiner Frau besprechen wollte.
    Was
ich auch tat, und zu meiner Überraschung fand Winnie, das klinge interessant,
und schlug vor, wir sollten uns interviewen lassen.
    Wir
trafen Brigitte Leblanc in einem Zimmer im Hotel Ambassade in Maardam. Sie war
älter, als ich nach unserem Telefongespräch geschätzt hatte - um die
fünfundsechzig -, und ich fasste augenblicklich ein gewisses Vertrauen zu ihr.
Sie war groß, dunkel und zurückhaltend, entschuldigte sich, dass sie in
verheilten Wunden graben wollte, aber Ziel der Artikelserie war es unter
anderem, Menschen, die sich in der gleichen Situation befanden wie wir,
Hilfestellung zu geben.
    Mit
anderen Worten: Eltern, die ein Kind verloren hatten.
    Dann
erzählte sie, dass sie selbst einen Sohn hatte, der vor zehn Jahren
verschwunden war.
    »Vor
zehn Jahren?«, fragte Winnie nach. »Und Sie wissen heute noch nicht, was mit
ihm passiert ist?«
    »Nein.«
    »Ob
er lebt oder ob er tot ist?« Brigitte Leblanc schüttelte den Kopf. »Wie alt war
er, als es passiert ist?«
    »Fünfzehn.
Ich habe erst spät Kinder bekommen. Ja, er war fünfzehn, als er eines Tages
einfach nicht von der Schule nach Hause kam.«
    »Aber
warum sollte er sich für ein Leben ohne Mutter entscheiden?«, fragte Winnie
nach einer kurzen Pause des Nachdenkens. »Man muss wohl davon ausgehen, dass
ihm etwas zugestoßen und er nicht mehr am Leben ist. Oder?«
    »Wir
hatten an diesem Morgen einen ziemlich heftigen Streit«, erklärte Brigitte
Leblanc. »Möglich, dass er mich verlassen hat, um mich zu bestrafen.«
    »Zehn
Jahre lang?« Ich konnte die Frage nicht zurückhalten.
    »Ich
halte es in seinem Fall nicht für unmöglich«, antwortete sie.
     
    »Was
haben Sie getan, um ihn wiederzubekommen?«, möchte Winnie wissen, als Brigitte
Leblanc ihr Aufnahmegerät eingeschaltet hat und wir schon eine Weile über
Sarah gesprochen haben. »Entschuldigen Sie, aber ich muss immer wieder an Ihren
Sohn denken.«
    »Alles«,
antwortete Brigitte Leblanc einfach. »Ich habe alles getan.«
    »Und
Sie tun es immer noch?«
    »Nein,
jetzt habe ich aufgehört. Man kommt an einen Punkt, ich habe vorher selbst
nicht gewusst, dass es so ist, aber eines Tages wurde mir klar, dass es an der
Zeit war, ihn zu vergessen.«
    »Vergessen?«
    »Nein,
ich meine, es war an der Zeit, sich

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