Nesthäkchen 03 - Nesthäkchen im Kinderheim
entsetzt inne.
»Was denn, Lotte - fehlt dir irgendwas?«
»Ja, Mutti -« die Kleine begann zu weinen. »Meine Gerda, die steckt noch in der Manteltasche von Willem - die habe ich gestern abend ganz vergessen«, lauter wurde das Schluchzen.
»Gottlob, daß es nichts weiter ist«, die Mutter atmete auf.
»Weine nicht, Lotte, die Gerda werden wir schon wiederkriegen. Wir gehen gleich nach dem Frühstück ans Schiff.«
Nichts ging Annemarie jetzt schnell genug. Das Entwirren der sturmzerzausten Locken und das Flechten der blonden Rattenschwänzchen über jedem Ohr dünkte ihr eine Ewigkeit.
»Mutti - Mutti - das Schiff geht ab » drängte sie.
Kaum bekam die Mutter sie dazu, in Ruhe erst ihren Kakao unten auf der Hotelveranda zu trinken. Dabei hätte Annemarie das schöne Frühstück in den silbernen Kännchen mit dem knusprigen Backwerk und dem goldgelben Honig zu anderer Zeit sicherlich viel Spaß gemacht.
Nun eilte sie endlich der Mutter voran, die weißhügeligen Dünen hinab zur Landungsbrücke.
Kein Schiff weit und breit zu sehen. Nur ganz in der Ferne konnte man auf hohem Meer Fahrzeuge erkennen. Aber die sahen so winzig aus wie Boote.
Enttäuscht blickte Annemarie sich um, dann trat sie kurz entschlossen an einen alten Fischer heran, der mitten in der Sonne in dem leuchtend weißen Sande saß und Netze strickte.
»Ach, können Sie mir vielleicht sagen, wo die ‚Königin Luise‘ hingekommen ist«, fragte Annemarie höflich.
Der Fischer sah nicht von seiner Arbeit auf. Nur mit dem breiten Daumen deutete er in Richtung Meer.
Daraus konnte die Kleine nicht klug werden. Zum Glück kam die Mutti heran.
»Ist die ,Königin Luise‘ schon wieder abgegangen?« fragte sie.
»Woll«, der Alte sah nicht hoch.
Da aber traf ein schmerzliches Weinen sein Ohr, daß er mitten in der Arbeit innehielt und verwundert aufschaute.
»Meine Gerda - meine Gerda! - « schluchzte Nesthäkchen.
»Is was passiert - is sie ertrunken?« Jetzt kam Leben in das unbeteiligte Gesicht des Alten.
»Nee - aber sie steckt noch in dem Tranmantel von dem Matrosen Willem«, weinte es weiter.
»I - da bringt er dat Kinding dat nächste Mal retour, da brukst (brauchst) du nich tau weinen.« Der alte Fischer brach ganz verdutzt mitten in seiner Trostrede ab. Helles Lachen erschallte plötzlich aus dem Kindermund, der sich noch soeben zum Weinen verzogen hatte.
»Gerda ist doch kein Kind, die ist ja meine Puppe«, Annemarie mußte noch immer lachen.
»I, denn is dat jo nich so slimm«, der alte Fischer wandte sich in aller Gemütsruhe wieder seiner Strickarbeit zu.
»Wann legt die ,Königin Luise‘ hier wieder an?« mischte sich jetzt Frau Braun in das Gespräch.
»Jo - dat wird woll nich vor drei Dagen sünd.«
»Und um wieviel Uhr kommt das Schiff immer an, damit wir uns zur Zeit hier wiedereinfinden?«
Der Alte kratzte sich bedenklich seinen Schädel.
»Je, dat is mal so un mal so, dat ännert sich alle Dag mit de Flut.«
»Ach so«, meinte Frau Braun. »Würden Sie dann vielleicht so freundlich sein und sich die Puppe meines Töchterchens von dem Matrosen Willem einhändigen lassen, wenn das Schiff wieder anlegt - Sie kennen ihn doch?«
»Woll-woll, is'n fixer Jung. Jo-jo, dat will ickgirndun, ich lat mi de Pupp gewen (ich lasse mir die Puppe geben) -« ein leises Schmunzeln flog über das Gesicht des alten Fischers.
»Ach, wenn Sie das tun wollten!« rief Nesthäkchen getröstet. »Und grüßen Sie doch bitte Willem vielmals von mir, und ich lass' ihm auch schön dafür danken, daß er neulich so nett zu mir war« - sie reichte dem Fischer dankbar die Hand.
Der nahm das zarte, dünne Händchen behutsam zwischen seine Finger. Einen Augenblick sah er Annemarie mit seinen tiefliegenden Augen in das schmale Gesicht und murmelte wie zu sich selbst: »Dat möt annere Backen hier kregen!«
Dann wandte er sich wieder seinen Netzen zu, als ob niemand mehr neben ihm stände. Auch der freundliche Abschiedsgruß der Dame und ihrer kleinen Tochter fand keine Erwiderung mehr.
»Glaubst du, Mutti, daß der daran denken wird, meine Gerda abzuholen?« meinte Annemarie zweifelnd, während sie neben ihrer Mutter durch den weichen Sand landeinwärts stapfte.
Auch Frau Braun war die Sache nicht ganz sicher. Aber sie mochte ihr Nesthäkchen nicht aufs neue beunruhigen.
»Das beste ist, wir gehen selbst wieder an den Steg hinunter, wenn das Schiff ankommt«, überlegte die Kleine weiter.
»Das wird schlecht gehen, Lotte. Das Schiff
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