Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
armen, kleinen Flüchtlingskinder müssen hungern und frieren!« Da brachen sie sich doch Bahn, die abscheulichen Tränen, welche die Jungen nicht sehen sollten. Ausschluchzend schmiegte die weicherzige Kleine den Blondkopf an den weißhaarigen der Großmama.
Keiner von den Brüdern foppte heute Nesthäkchen. Der daneben sitzende Hans klopfte ihr beruhigend den Rücken, und Klaus schob ebenfalls sein Butterbrot, von dem er bereits den Belag heruntergegessen hatte, mit kühnem Entschluß dem älteren Bruder zu.
»Da, meins kannst du auch morgen mitnehmen.« Denn Klaus war trotz all seiner dummen Streiche ein von Herzen guter Junge.
Großmama tröstete ihren kleinen Liebling. »Iß nur, mein Herzchen, von den beiden Stüllchen werden die verhungerten kleinen Flüchtlingskinder doch nicht satt. Dazu sind ihrer zu viele. Wir packen einen Korb mit mehreren ganzen Broten und Butter, ein paar Würsten und Schinken, das hilft schon eher, den kann Hanne morgen nach dem Schlesischen Bahnhof bringen.«
»Ich nehme ihn auch selbst - es ist keine Schande, für das Vaterland einen Korb zu tragen!« Der Herr Obersekundaner, dem früher das kleinste Paket peinlich gewesen war, da er glaubte, es könne seiner Männlickeit Abbruch tun, meldete sich freiwillig. So erzog der Krieg die Jugend.
»Und Wäsche und Kleider wollen wir auch für die armen Kinder mitschicken, daß sie nicht mehr im Hemdchen herumzulaufen brauchen und frieren müssen«, bat Annemarie noch immer schluchzend.
»Ja, ja, mein Kleines, wir revidieren morgen alle Sachen, nun iß du aber auch!«
»Revidieren ist ein Fremdwort!« selbst unter Tränen hielt Nesthäkchen der Großmama ihren feldgrauen Soldaten hin. Dann endlich ließ Annemarie es sich wieder schmecken. Aber als sie nacher im Bett lag, konnte sie nicht einschlafen. Diesmal waren es nicht die Gedanken an den im Krieg weilenden Vater und an das unbekannte Schicksal ihrer fernen Mutti, was Annemarie wach hielt. Nein, die armen, von Haus und Scholle vertriebenen Ostpreußen waren es, deren trauriges Schicksal den Schlummer von Nesthäkchens Blauaugen scheuchte.
Wieviel kleine Flüchtlingskinder mochten wohl heute kein Bettchen haben, in dem sie die müden Glieder strecken konnten! War sie denn eigentlich besser als all die armen Kleinen, daß es ihr so gut ging? Und war sie denn jemals dankbar dafür gewesen? Hatte sie es nicht als etwas ihr Zukommendes stets hingenommen, daß sie eine schöne Stube hatte, ein warmes Bett, Kleidung und Essen? Ja, war ihr nicht all die Liebe, die ihr von ihren guten Eltern zuteil geworden, als etwas ganz Selbstverständliches erschienen, bis zu dem Augenblick, da die Eltern in ihrem Heim fehlten?
Das waren merkwürdig ernsthafte Gedanken, die heute in dem sonst von allerlei ausgelassenen Dummheiten angefüllten Köpfchen des Wildfangs herumspukten. Auch der Mond, ihr guter, alter Freund, war darüber verwundert.
Aber was für ein erstauntes Gesicht machte der Vollmond erst, als er sah, daß seine kleine Freundin lautlos ihr Lager verließ. Daß sie sich zur Tür schlich und horchte, ob auch Fräulein nicht käme und sie wieder ins Bett zurückjagte. Nanu, Doktors Nesthäkchen hatte doch nichts Schlechtes im Sinn?
Nein, der Mond brauchte gar nicht solch ein grimmiges Gesicht zu machen -- Annemarie tat nichts Böses. Bei seinem Silberschein suchte sie in aller Nacht von ihren eigenen Kleidern, was sie nur irgend entbehren konnte, für die armen Flüchtlingskinder heraus - eher fand sie keine Ruhe. Hans sollte gleich morgen früh alles mitnehmen, nicht einen Tag durften die Kinder mehr frieren.
Zuerst ging es an den weißen Schrank, in dem ihre schöne Wäsche, zierlich mit hellblauen Bändern gebunden, aufgestapelt lag. Ach, wieviel Hemden und Höschen hatte sie, die konnte sie fast alle fortgeben. Denn Hanne, die immer so nett zu ihr war, würde gewiß gern öfters in der Woche für sie waschen. Da brauchte sie eigentlich gar nicht mehr als zwei. Ebenso war es mit den Leibchen, Stickereiröckchen und Schürzen. Alles wanderte in den großen, weißen Puppenwagen, den sie zu diesem Zwecke leer gemacht hatte. Die Puppen, die aus ihrer Nachtruhe gerissen wurden, machten bestürzte Gesichter.
Nur zwei Stück von jeder Art Wäsche behielt die Kleine für sich selbst zurück. Dann ging es an den Kleiderschrank. Hier wurde ihr die Auswahl ungleich schwerer.
Das rote Musselinkleid mit den weißen Punkten war ihr Schulkleid, das konnte sie unmöglich fortgeben. Das hellblaue
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