Nesthäkchen 05 - Nesthäkchens Backfischzeit
wir den weiten Weg hin und her auf Schusters Rappen machen«, tröstete sie.
Aber die verschiedenen Eltern hatten auch noch ein Wörtchen mitzusprechen. Bei der großen Hitze, die gerade herrschte, sollten weder Annemarie noch Marianne und Vera die weite Strecke bis in den Mittelpunkt der Stadt zu Fuß zurücklegen. So sah es mit Marlenchens Geburtstag bös aus, wenn nicht noch ein Wunder eintrat.
Und das Wunder geschah.
Nicht etwa, daß die Blockade zu Ende ging. Aber eines Morgens, als man zur Schule zog, war es da. Wie aus der Erde emporgewachsen: Wagen in allen Größen, von allen Formen und sonst den verschiedensten Zwecken dienend. Jetzt aber hatten sie nur den einen Zweck, Menschen zu befördern. War das ein merkwürdiges Bild! Auf den Plätzen eine richtige Wagenburg. Man war plötzlich wieder aus dem Zeitalter der Elektrizität um hundert Jahre zurückversetzt. Ein Gekribbel und Gekrabbel von Wagen und Pferden. Ein Ausrufen und Durcheinanderschreien der Kutscher und Besitzer.
»Hier, junge Frau, können Sie für zwei Märker bis nach dem Stettiner Bahnhof jondeln« ... »Ein Platz hier noch in meiner Equipage« ... »Na, Mutterken, soll ick Ihnen auf'n Bock verladen« ... »Fünfzig Fennich hier de Kremserfahrt, es jeht so schnell wie mit's Flugzeug«, schrien sie durcheinander.
Annemarie, Margot und Vera waren starr vor Staunen. »Seht doch bloß, da fahren ja Leute mit 'nem Möbelwagen. Bänke und Stühle haben sie reingestellt!«
»Und da im Schlächterwagen werden auch Menschen statt Ochsen aufgeladen«, gab Annemarie lachend zurück.
»Oh, die schwarze Kohlenwagens, da ich nicht möchten fahren mit.« Vera schüttelte sich. Und trotzdem war er dichtbesetzt mit Menschen, die alle in die Stadt mußten und nicht laufen wollten.
»Einsteigen, Fräuleinchen, immer rin! Mit mich fahren Se trotz fünfundzwanzig Jrad Hitze kühl wie auf'n Nordpol«, rief es von einem Kutscherbock herab den drei hübschen Mädeln zu. Der Wagen trug ein Schild »Norddeutsche Eiswerke«.
War es da ein Wunder, daß sie über all das Außergewöhnliche und Belustigende, was die Straße heute bot, den Schulanfang versäumten? Daß Fräulein Neuberts Eulenaugen strafend den Verspäteten entgegenfunkelten? Und daß mitten in der Stunde die lebhafte Annemarie plötzlich in schwerverhaltenen Jubel ausbrach: »Marlene, wir machen an deinem Geburtstag eine Kremserlandpartie zu dir!«
Keine kam heute pünktlich zu Tisch nach Hause.
»Ganz Berlin auf Rädern«, sagte der Vater, als das Fräulein Tochter erst nach der Suppe zu erscheinen geruhte. »Deine Räder aber scheinen stillgestanden zu haben.« Er lächelte verständnisvoll.
Bald darauf öffneten sich die Lebensmittelgeschäfte wieder, und Frau Ulrich konnte Geburtstagskuchen backen. In der Obersekunda nahm man lebhaft Notiz davon.
»Seid pünktlich um vier da, sonst wird der Kaffee kalt«, bat das Geburtstagskind.
Das wurde eifrig versprochen. Dabei war eine solche Gluthitze, daß das Lyzeum schon um 11 Uhr seine Pforten hinter der seligen Mädchenschar schloß und die Aussicht auf heißen Kaffee geradezu beängstigend wirken mußte.
»Ich zieh' mein weißes Voilekleid an« ... »Ich mein mattblaues, die Eierflecken sieht man kaum noch« ... »Ich möchte am liebsten im Badeanzug kommen.« Das war natürlich wieder Annemarie, die solche unmöglichen Wünsche hatte.
Dessen ungeachtet bestürmte sie zu Hause die Mutter, das neue Mullkleid mit den Rosenknospen, das eigentlich für die Tanzstunde im Winter bleiben sollte, anziehen zu dürfen.
»Es ist wundervoll leicht bei der Hitze. Und Marlenes Geburtstag ist doch eine würdige Gelegenheit, es einzuweihen. Bitte, Muttchen, erlaub's doch.«
»Lotte, du hast kein Vergnügen, wenn du dich mit dem neuen Kleid fortwährend vorsehen mußt. Die Wagen, mit denen man jetzt fährt, sind nicht allzu sauber. Und möglicherweise kriegen wir ein Gewitter. Es liegt mir in den Knochen.« Diese drei Gegengründe waren eigentlich einleuchtend. Aber nicht für Annemarie. Für die bestand angeblich das größte Vergnügen darin, nur auf das neue Kleid zu achten. Die würde sich den feinsten Kremser mit roten Samtpolstern heraussuchen; und »in ihren Knochen« lag herrlicher Sonnenschein.
Als sie dann eine halbe Stunde später abschiednehmend in dem Rosenknospenkleid erschien ... denn mit Bitten und Schmeicheleien hatte sie es wirklich durchgesetzt ... da schaute die Mutter doch stolz auf ihr hübsches Töchterchen.
Puh ... war das
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