Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
sich Anita. Es klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Daran war die deutliche Empfindung schuld, daß Marietta im Grunde recht hatte. Furchtbar mußte es sein, bei der glühenden Sonne aus der unteren Stadt die am Berghang gelegenen Villenstraßen emporzuklimmen.
»Es wird sich schon eine mitleidige Seele finden, die Antonia mitnimmt«, begütigte Elvira. »Freilich, warum müssen wir das denn gerade sein!« Anita hatte das peinigende Gefühl im Augenblick überwunden.
»Warum sollen wir es denn nicht sein? Was andere tun, hätten wir doch auch gekonnt«, beharrte Marietta. Es kam nicht oft vor, daß sie ihre Ansicht der Schwester gegenüber so hartnäckig verfocht.
»Jetta hat heute ihren moralischen Tag, da sieht sie unserer teuren Miß zum Verwechseln ähnlich.« Im Nu hatte Anita ihr rundes Gesicht in lange Falten gezogen. Den Unterkiefer vorgestreckt, kopierte sie die englische Miß so wahrheitsgetreu, daß auch Marietta wieder lachen mußte. So war es stets, wenn man sich mit Anita in Erörterungen einließ. Sie ging stets als Siegerin daraus hervor, auch wenn sie im Unrecht war.
Das Auto hielt vor der schönsten Villa der Avenida Paulista. Wie ein kleines Schloß lag sie in dem herrlichen Palmengarten. Zwei Diener, Neger und Mulatte, eilten herbei; der eine öffnete den Schlag und war den jungen Damen beim Aussteigen behilflich, der andere trug die Büchertaschen ins Haus.
Elvira verabschiedete sich von den Freundinnen. Sie wohnte ein paar Villen weiter. »Brav gefahren, Homer«, nickte Anita gnädig.
»Grüß den Großvater, Homer. Wir lassen ihm gute Besserung wünschen. Wenn wir dürfen, besuchen wir ihn«, fügte Marietta freundlich hinzu.
Daraufhin wurde eine der in die Diele führenden Türen aufgerissen, und ein allerliebstes Bürschchen stürzte heraus, gefolgt von seiner schwarzen Kinderfrau Rosita. »Nita und Jetta sind da!« Zärtlich hing sich der Kleine an die großen Schwestern. »Wo ist Mammi, Juan?« fragte Marietta, liebevoll die blonden Locken des Kleinen streichelnd. Der kleine Nachkömmling war das Entzücken des ganzen Hauses, und der großen Schwestern besonders.
»Mammi paßt auf, daß Emilia und Maria unsere Koffer gut einpacken. Morgen fahren wir fort, weit fort, nach der Fazenda.«
Ein Mulatte brachte Eiswasser und Früchte.
Inzwischen hatte Marietta, Juan an der Hand, bereits das Zimmer der Mutter betreten.
»Guten Tag, Mammi. War das heute heiß im College! Ein Glück, daß es morgen auf die Fazenda geht. Ihr seid wohl bald mit dem Einpacken fertig?« Marietta küßte die Mutter auf beide Wangen.
»Guten Tag, mein Herz. O weh, bist du erhitzt, Jetta. Komm, ich mache dir ein Glas Orangenlimonade zurecht.« Eine blonde, jugendlich aussehende Dame - sie hatte die Mitte der Dreißig wohl kaum überschritten - im weißseidenen Hausgewande griff nach einer der herrlichen Riesenfrüchte.
»Mir auch, Mammi, ich habe auch Durst«, begehrte der Kleine, sich zärtlich an die Mutter schmiegend.
»Jungchen, du trinkst mir heute zuviel durcheinander. Du willst doch morgen zur Reise nicht etwa krank sein, nicht wahr, mein kleiner Hansi?« Wenn die Mutter besonders zärtlich zu ihrem Kleinsten war, nannte sie ihn mit dem ihr so lieben deutschen Namen. Das klang um so merkwürdiger, als die Sprache des Hauses Tavares, in der die Familienmitglieder miteinander verkehrten, portugiesisch war.
»Nein, ich will nicht krank werden, dann ist meine Mammi traurig.« Der Kleine liebte seine Mutter abgöttisch.
Da steckte auch Anita den Kopf zur Tür herein. »So - die langweilige Schule wären wir auf zwei Monate los, Mammi. Ich wünschte, wir könnten's mit unserer geliebten Miß ebenso machen. Meinst du nicht, daß es ihr in Ribeiräo Preto zu langweilig ohne Geschäfte, in denen man Shopping gehen kann, sein wird? Wir wären nicht böse, wenn sie es vorzöge, in Sao Paulo zu bleiben.«
»Aber Nita!« Halb belustigt, halb ärgerlich schüttelte Ursel Tavares den blonden Kopf. »Der armen Miß Smith ist es heute nicht nach Shopping gehen zumute. Sie liegt im verdunkelten Zimmer mit heftiger Migräne.«
»Oh!« machte Marietta mitleidig, obwohl sie die lange, steife Miß auch nicht besonders in ihr Herz geschlossen hatte.
»Oh!« echote Anita mit komisch verdrehten Augen so spitzbübisch hinterher, daß die Mutter wieder lachen mußte.
»Ihr seid schon eine Gesellschaft! Es wird Zeit, daß ihr in strengere Hände kommt. Miß Smith ist nicht energisch genug, besonders für dich Anita,
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