Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
aus. War es denkbar, daß in diesen fensterlosen, elenden Lehmhütten Menschen hausten? »Zu welche Fazenda ihr gehören?« erkundigte sie sich. Das Kind nannte einen Namen. Er war angesehen in Sao Paulo, der Name Orlando. Die Familie lebte dort in Reichtum und Luxus. Zum ersten Mal taten sich hier dem jungen Mädchen die krassen sozialen Gegensätze auf.
Vor einer der Hütten spielten nackte braune Mulattenkinder im Staub. Irgendwo blaffte ein Hund. Sonst alles wie ausgestorben. Das ganze Dorf war auf den Plantagen bei der Arbeit. Mariettas kleine Führerin steuerte auf eine der Hütten zu. Der türenlose Eingang war so niedrig, daß selbst das Kind beim Betreten der Hütte den Kopf neigen mußte. Palmblätter bildeten das Dach. Statt einer Tür hing das Moskitonetz zum Schutz gegen die lästigen Insekten vor der Öffnung.
»Schläfst du, Mutter,« hörte sie da das Kind drin sagen. »Wach auf, Mutter. Da ist ein Mädel, das redet wie wir. Sie hat gesagt, sie will dir helfen.«
Darauf ein Stöhnen, dann eine matte Frauenstimme: »Uns kann keiner mehr helfen, Lottchen. Uns hat selbst der liebe Gott verlassen.«
Hier war ein Mensch in Not. Hier mußte geholfen werden. Marietta bückte sich, um in die Hütte zu gelangen.
Der kleine Erdraum erhielt Luft und Licht nur durch die Türöffnung. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Holztruhe. In der Ecke, aus ein paar Steinen errichtet, eine ärmliche Kochgelegenheit. All dies unterschied Marietta in dem dämmerigen Halbdunkel nach dem blendenden Sonnenlicht draußen erst nach und nach. Vorläufig hatte sie nur Augen für die kranke Frau, die da auf einem mit ein paar Lumpen bedeckten Blätterlager hingestreckt lag. Große, fiebrig glänzende Augen schauten erstaunt fragend auf die junge Besucherin. »Guten Tag, liebe Frau, Sie sein krank?« begann Marietta teilnehmend. Das Elend, das ihr hier unverhüllt entgegengrinste, legte sich ihr beklemmend auf die Brust. Sie vermochte kaum zu sprechen.
Bei den deutschen Lauten, obgleich sie fremdländisch klangen, war es wie ein Lächeln über das abgezehrte Gesicht der Kranken gezogen.
»Sehr krank. Es geht zu Ende - ich fühl's. O Gott, der Durst, der entsetzliche Durst!« Ein Ächzen folgte.
»Wo es geben Wasser hier?« wandte sich Marietta, ihre Erschütterung niederzwingend, an das Kind. Sie griff nach einem braunen Krug.
»Dort - die Nachbarin hat uns heute morgen, ehe sie zur Arbeit ging, einen Eimer Wasser geholt. Aber das Wasser ist schlecht, man darf es nicht trinken. Es muß gekocht werden. Sonst wird man krank und muß sterben wie Vater«, setzte das Kind altklug hinzu. Schlechtes Wasser, das Seuchen erzeugte. Marietta hatte in Sao Paulo davon sprechen hören, daß auf verschiedenen Kaffeeplantagen unverantwortlicherweise ungesunde Wasserverhältnisse seien. Himmel, wie war es möglich, daß die Orlandos in größtem Luxus lebten, während ihren Arbeitern die notwendigste Lebensbedingung, gesundes Wasser, fehlte?
»Wasser - nur einen Schluck Wasser! Ich verbrenne!« stöhnte die Fieberkranke.
»Wir werden die Wasser kochen«, meinte Marietta kurz entschlossen. »Wo man kann kochen?«
Das Kind wies auf die aufeinandergetürmten Steine: »Holz liegt draußen. Aber der Herd raucht, wenn wir Feuer machen. Dann muß Mutter wieder husten.«
Ratlos stand Marietta da. Nur selten mal hatte sie in ihrem Elternhaus die Küche betreten. Dort hauste die Dienerschaft, die schwarzen Köchinnen, die den ganzen Tag backten und kochten. Das war kein Aufenthalt für die jungen Damen.
Hätte sie doch nur Diego mitgenommen. Nun mußte sie selbst sehen, fertig zu werden. Denn die Kranke bat unausgesetzt um Wasser.
»Ich werde machen Holzfeuer.« Mit ihren zarten Händen griff Marietta nach einem großen Scheit Holz und wollte es in den Steinherd legen.
»Man muß das Holz klein machen«, belehrte sie das Kind. »So hat Mutter es immer gemacht, und auch die Nachbarin macht es so.«
Marietta griff nach einem Messer. Sie schämte sich vor der Kleinen, daß sie, die soviel Ältere, das nicht wußte.
Das Holz war zäh, das Messer stumpf. Ritsch - da war es statt in das Holz in Mariettas ungeschickte Finger gegangen. Rotes Blut tropfte hernieder.
»Es nicht tun weh«, beruhigte sie das erschreckte Kind und machte mit ihrem Spitzentaschentuch einen Notverband. »Aber es sein besser, ich schicke euch unseren Diener. Und der Arzt muß kommen auch.« »Und auch was zu essen«, erinnerte das kleine Mädchen.
»Zu essen, ja, Lotta. Meine Mutter
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