Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
hernieder. Weich deckte er Rasen, Baum und Strauch. Die große Linde schaute aus ihrem Flockenpelz wie ein Schneeriese heraus. Das Gartentörchen trug eine weiße Hermelinmütze. Vor dem Erkerfenster des Biedermeierzimmers draußen in Lichterfelde türmte es sich zu einem weißen Samtpolster. Frauenaugen schauten sinnend hinaus.
Wie lange diesmal der Winter anhielt. Sonst hatte Frau Annemarie im Februar bereits die ersten Schneeglöckchen gepflückt. Damals, sechzehn Jahre war es her, als ihre Jüngste, ihre Ursel, das Elternhaus verließ, da blühten schon die Veilchen und Krokusse im Garten. Niemals hatte sie den Frühling so ersehnt wie in diesem Jahre. Und nie hatte er länger gesäumt. Würde er ihr doch endlich ein Wiedersehen bringen mit ihrem Kind. Sechzehn Jahre - war es denn denkbar, war es möglich, daß sie die lachenden Augen ihrer Ursel so lange hatte entbehren müssen?
Frau Annemaries Hände griffen nach der Strickarbeit in ihrem Schoß. Oft mußte Frau Annemarie daran denken, wie sie als kleines Nesthäkchen die Kunst des Strickens von ihrer Großmama erlernt hatte.
Draußen sank Flocke um Flocke. Drinnen schlang sich Masche an Masche - Gedanke an Gedanke. Alle hatte sie an ihr zärtliches Großmutterherz nehmen können, all die Enkelchen. Auf ein jedes nach seiner Art machte sie ihren liebevollen Einfluß geltend. Gerda war mit ihren dreizehn Jahren schon heute ein kleiner Schulmeister und Pedant. Die wirtschaftlich schweren Jahre, die das Kind mit durchlebt hatte, hatten es frühreif und vorzeitig verständig gemacht. Hansis Älteste, die neunjährige Lilli, war gerade das Gegenteil davon. Verspielt und vorläufig noch ohne jeglichen Ernst für die Schule. Der Hansi, ihr Vater, hatte es ja auch niemals allzu schwer mit den Anforderungen der Schule genommen. Lillis noch gänzlich schlummerndes Pflichtgefühl zu wecken, hatte sich die Großmama als Aufgabe gestellt. Evchen, die sechsjährige, war ein kleiner Eigensinn, mit dem keiner was anzufangen wußte, selbst die eigene Mutter nicht. Nur die Großmutter verstand es, das Trotzköpfchen zu brechen. Und die beiden Kleinen, die Buben, so süß sie waren, ihr redliches Teil Ungezogenheit und Rangenhaftigkeit hatten sie schon heute. Ein etwas ernsteres Wort von der stets gütigen Großmama wirkte da tausendmal mehr, als eine ganze Strafpredigt der Eltern.
Alle Enkel hatte sie, fast von dem ersten Atemzug an, in ihre treue großmütterliche Obhut nehmen können. Nur die Kinder ihrer Jüngsten, Ursels drei, die waren ihr fern. Fern und fremd. Zwar erzählten Ursels Briefe hauptsächlich von ihnen und von der Eigenart eines jeden Kindes. Zwar kamen oft Bilder, die zeigten, wie sie sich entwickelten, was für kleine Schönheiten die Zwillinge zu werden versprachen. Aber innerlich blieben sie ihr fremd, die zwei, die ihren Namen trugen. Anita fügte nur selten einen Gruß an die fremden Großeltern an. Ihre Schreibweise war fehlerhaft, ihre deutschen Worte klangen kühl und eingelernt.
Mariettas Zeilen verrieten mehr Wärme. Sie sprach den Wunsch aus, die Großeltern und die deutsche Heimat der Mutter kennenzulernen. Aber auch hier berührte die Großmutter, die zwischen den Zeilen nach einem Zusammenhang mit den Kindern ihrer Ursel suchte, vieles fremd. Da war alles so anders, da drüben im Tropenland. Wovon Marietta berichtete und was ihr wichtig war, erschien der deutschen Großmutter nichtig und äußerlich. Zwei Seiten des Schreibens handelten von dem Sportpreis, den Anita beim Fußballwettspiel errungen hatte. Fußball war gut für die Jungen, nicht für die Mädchen. Von Vergnügungen, Einladungen, von Tennisturnieren und Autofahrten erzählten die Briefe, von Luxus und Eleganz. Die Schule wurde, wenn überhaupt erwähnt, so nebenbei abgetan. »Der Ernst der Arbeit und der Verantwortung, den auch junge Menschen schon haben müssen, fehlt den Kindern. Das scheint halt ein Gewächs zu sein, das in den Tropen nimmer gedeiht«, hatte sich ihr Mann in seiner geraden Weise, die keine Umschweife kannte, über die Briefe der fernen Enkelkinder geäußert. Und was hatte Frau Annemarie getan? Sie hatte sie in Schutz genommen, die Kinder ihrer Ursel.
Ihr beredter Anwalt war sie geworden. Sprach nicht aus Mariettas Zeilen die innige Liebe für die Mutter? Hatte Anita nicht bei dem letzten Musikabend schon die zweite Geige gespielt? Das erfordert doch ernstes Studium. Wenn sie nur erst nach Berlin kämen, dann würde man schon die Auswüchse, die das
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