Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
nein, das war unmöglich.
Frau Annemarie hatte den heimlichen Kampf in dem offenen Gesicht des jungen Mädchens wohl bemerkt. »Nun, Jetta, wenn du keine Lust hast, mit mir zu gehen, dann bleibe nur ruhig bei Anita zu Hause«, kam sie ihr zu Hilfe.
»Nein, die liebe Großmama soll nicht gehen allein. Ich werde gehen mit.« In einer plötzlichen Aufwallung hing sich Marietta an den Arm der Großmama. »Schön, mein Herzchen. Ich müßte mich ja auch vor Tante Ruth und Onkel Hans schämen, wenn ich ihnen ihre amerikanischen Nichten vorstellen will, und keine begleitet mich.« Das war gleichzeitig für Anita gesagt. Vielleicht änderte sie doch noch ihren Entschluß. Da aber kannte Frau Geheimrat die junge Amerikanerin noch schlecht. Was die sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, dabei blieb sie, obwohl Marietta die Schwester bat mitzukommen, obwohl sie ihr zu bedenken gab, daß die neuen Verwandten es übelnehmen könnten, wenn sie diese nicht besuchte.
Anita zuckte die Achsel. »Sollen sie schicken Auto zu fahren.«
Marietta hatte ihren Arm in den der Großmama geschoben und schritt tapfer neben ihr her. Sie trug ein korallenfarbenes Seidenkleid, viel zu elegant für die Straße. Aber die Großmama mochte sie nicht wieder zurückschicken, um ihr die Lust an dem Spaziergang nicht zu beeinträchtigen. Sie hatte sich vorgenommen, dem Tropenkind Freude an der deutschen Natur, Freude am Spazierengehen zu erschließen.
Durch die grünen Wiesen, die man vom Balkon aus sah, führte der Weg. Gänseblümchen, Dotterblumen und Himmelsschlüsselchen blühten dort lustig durcheinander. Am Himmel tummelten sich muntere Lämmerwölkchen. Schwalben durchschossen in graziösem Bogen zwitschernd die klare Luft. Marietta hatte daheim im Tropenland herrlichere Blumen in viel bunterer Üppigkeit gesehen. Und doch bückte sie sich nach den bescheidenen Wiesenblümchen und wand sie zu einem zarten Strauß. Farbenprächtige Vögel kannte sie von Brasilien her, und doch griff ihr das schlichte, blaue Schwälbchen mit seinem hellen Quiwitt ans Herz. Die Luft war kräftig und nach frischem Grün duftend - ach, es war schön, herrlich war es in Europa. Marietta mußte ihren Gefühlen Ausdruck geben: »Oh, ich liebe deutsche Land.« Und sie drückte der Großmama einen Kuß auf die Wange. Frau Annemarie lächelte still. »Nun, Jetta, ist es gar so arg, mit der Großmama Spazierengehen zu müssen? Im Auto genießt man die Natur doch nicht so, nicht wahr?« Marietta nickte. »Spazierengehen schön, sehr schön. Aber ohne Füße.« Hell klang das Lachen der Großmama in das Schwalbengezwitscher hinein. »Ja, mein Herzchen, Spazierengehen ohne Füße, das ist ein Kunststück, das man weder in Deutschland noch in Brasilien fertigbringt. Ich habe gar nicht gedacht, daß unsere Jetta solch kleiner Faulpelz ist.«
»Nicht faules Pelz. Steine drücken durch Schuhe.« Marietta verzog ihr Gesicht schmerzhaft.
Einen Blick warf die Großmutter auf die zierlichen Füßchen, dann rief sie entsetzt: »Aber Kind, du trägst ja Ballschuhe! Das ist allerdings nicht das richtige Schuhzeug für unsere Feld- und Waldwege. Habt ihr denn keine festen Lederstiefel?«
Marietta schaute betreten auf ihre korallenfarbenen Schühchen. »Wir haben Sportschuhe nur für Reiten, für Fußball und für Tennis.«
»Was - Fußball spielt ihr Mädel auch? Das ist bei uns nur ein Spiel für die Jungen. Aber die Fußballschuhe sind sicher auch zum Spazierengehen geeigneter als diese dünnen Seidenlappen.«
»Ich nicht liebe Fußball - aber Anita liebt. Hat gewonnen viele Preise. Ich mehr liebe Reiten - wann wir werden reiten? Wo hat Großmama stehen ihre Reitpferde?« Ganz bestürzt wandte Marietta den Kopf nach der Großmama. Nein, wie sie lachte, so von innen heraus, als wollte sie sich dabei ausschütten. Was hatte sie denn nur Komisches gesagt, was die Großmama so belustigte?
»Jetta, meine beiden Reitpferde, die sind mir fest an den Körper gewachsen.« Die Großmama konnte kaum sprechen. »Hier meine beiden Beine sind meine Pferde, darauf reite ich nun schon über sechzig Jahre.« So hell, so ansteckend klang das Lachen der alten Frau, daß die junge Enkelin mit einstimmen mußte.
»Die liebe Großmama macht spaßig. Hat sie gar keine richtigen Pferde zu reiten? Auch nicht der Großpapa? Auch nicht Donna Trudchen?«
»Frau Trudchen zu Pferde - das wäre allerdings ein Anblick für Götter! Nein, Kind, wir reiten hier alle nicht.«
»Wird gereitet gar nicht in
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