Nesthäkchen 09 - Nesthäkchens und ihre Enkel
der Zwillingsschwester blickte, vergaß sie ihren Ärger. Sie wurde schwankend.
Da kam ihr bei diesem heimlichen Kampf Hilfe von einer Seite, an die keiner mehr im Augenblick dachte. Eine braune Affenhand langte aus dem Lindengezweig herunter zu der Kuchenschüssel und verschwand mit dem noch recht beträchtlichen Rest des Napfkuchens wieder im Grünen.
»Jimmy!« riefen Anita und Marietta erschreckt wie aus einem Munde. Und dann brach Anita in helles Lachen aus über all die entsetzten Gesichter. Und Marietta konnte sich nicht helfen, sie mußte ebenfalls mit einstimmen. Und was tat die Großmama? Sie, die doch allen Grund hatte, auf Anita sowohl wie auf den kleinen, braunen Räuber böse zu sein? Sie lachte mit, lachte von Herzen mit den beiden Mädeln, wie nur sie lachen konnte. Und wie einst das Lachen des kleinen Nesthäkchens ansteckend gewirkt hatte, so wirkte noch heute das Lachen der alten Frau. Man wurde mitgerissen, ob man wollte oder nicht. Die Stimmung, die noch eben so schwül gewesen war, wurde plötzlich ganz ausgelassen. Und als Jimmy jetzt bei einem zweiten Überfall, den er ins Werk setzen wollte, selbst von Anita gepackt wurde, gab es des Jubels, besonders bei der kleinen Gesellschaft, kein Ende.
»Annele, jetzt tust den Dieb, den kecken, aber ins Verlies. Marsch, fort mit ihm«, verlangte der Großpapa. Diesmal gehorchte Anita. Jimmy wurde unter Begleitung und Zurufen aller Enkelkinder in sein Lattenhaus gebracht.
Inzwischen hatten sich die Herren zum Sonntagsskat auf die Terrasse zurückgezogen. Die Miß hatte sich mit wichtigen Briefen entschuldigt. Die Damen rückten unter der Linde zusammen.
»Da hast du auf deine alten Tage noch eine ziemlich schwierige Aufgabe, mein Mutterchen«, begann Frau Vronli.
»Nun, in einem Tag ist Rom nicht erbaut worden. Anita hat ein gutes Herz.« Alles, was Frau Annemarie sich selbst zum Trost zu sagen pflegte, brachte sie jetzt zur Verteidigung des Enkelkindes hervor. »Unser Urselchen war ja auch nicht allzu leicht zu erziehen und ist doch ein vollwertiger Mensch geworden.«
»Aber ihre Kinder hätte die Ursel besser erziehen können«, meinte die älteste Tochter kopfschüttelnd. »Maßlos verwöhnt scheinen sie zu sein. Ursel war ja auch immer unser Prinzeßchen und ist es drüben in all dem Luxus wohl noch mehr geworden.« Frau Vronli hatte ihr Lebtag angestrengt gearbeitet, gespart und für die Armen und Bedrückten gesorgt. Sie verlangte auch von andern eine ernste Lebensauffassung. »Wenn meine Gerda so wäre ...«
»Die Kinder sind unter Tropensonne aufgewachsen, Vronli«, unterbrach sie ihre Schwägerin Ruth begütigend. »Andere Sonne zeitigt andere Früchte. Du darfst sie nicht mit hiesigem Maß und gar an deiner besonders verständigen und bescheidenen Gerda messen. Ich bin davon überzeugt, in bessere Hände konnte Ursel die Erziehung ihrer Zwillinge nicht legen, als in die unserer Mutter.« Die ganze Verehrung der Schwiegertochter kam in diesen Worten zum Ausdruck.
»Dein Vertrauen ehrt mich, Ruth«, lächelte die alte Dame, »hoffentlich mache ich es nicht zuschanden. Ich denke, wenn die Mädel erst in einer Schule mit Altersgenossinnen zusammen sein werden, nehmen sie unbewußt von diesen an, was man ihnen sonst soundso oft erst predigen muß. Und meine letzte Hoffnung setze ich auf Ursel. Miltons Bein heilt gut. Vor dem Herbst werden sie zwar nicht ans Reisen denken können. Aber schließlich wird die Zeit ja mal herankommen.«
Die beiden andern Damen warfen mitleidige Blicke auf die Mutter. Sie wußten, wie schwer sie unter der langen Trennung von ihrer Jüngsten litt.
»Hör nur, Mutter, die Jugend scheint sich bereits angefreundet zu haben«, versuchte Frau Ruth die Schwiegermutter abzulenken. »Das Krocketspiel verbindet Amerika und Europa.« Man vernahm vom Hofgarten her helle, lustige Stimmen, bei denen die Anitas und der beiden kleinen Jungen tonangebend schienen.
»Wenn meine Kinderchen so vergnügt miteinander sind, muß die alte Omama heute mal zurückstehen«, lächelte die alte Dame. »Kommt, Vronli und Ruth, wir wollen ein wenig im Garten promenieren. Inzwischen bereitet uns Frau Trudchen den Abendtisch. Sie wird heute wohl auf Gerdas Hilfe verzichten müssen. Unser Gerdachen ist von den neuen Kusinen ganz in Anspruch genommen.«
Nein, Gerda war zuverlässig. Die vergaß weder über dem Spiel noch über den brasilianischen Kusinen ihre Pflicht. Als Frau Trudchen mit Tellern, Messern und Gabeln zu klappern begann, war
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