Netha-Chrome
ihn. „Ich habe nämlich keine Lust, von einer Schießerei in die nächste zu geraten.“
Ich wusste, wie es in den unteren Ebenen zugehen konnte. Ohne eine schussbereite Waffe sollte man sich auf gar keinen Fall dorthin begeben. Dort lebten die, die vom System verlassen und verkauft worden waren. Flüchtlinge, denen man das Blaue vom Himmel versprochen und nie gehalten hatte. Abtrünnige und Aussätzige bewohnten diese Ebenen, die nur gebaut worden waren, weil man nach oben hin nicht aufstocken konnte und auch nicht gewillt war, die Kuppel abzureißen, um Platz für neue Wohnungen zu schaffen. Dort unten schien nie die Sonne, es war stickig und eng und die künstliche Schwerkraft funktionierte auch nie so, wie man es sich anfangs erdacht hatte. Alles in allem war dieses sogenannte Underwelth kein Ort, an dem ich länger als unbedingt nötig verweilen wollte.
„Ich kenne dort ein paar einflussreiche Leute. Wir werden also einigermaßen sicher sein.“
„Einigermaßen ist immerhin besser als gar nicht“, murmelte ich und sah Sydney an. Diese erwiderte meine Blicke mit Skepsis.
„Ich halte das für keine gute Idee“, warf sie ein. War ja klar. Sydney hielt nie irgendetwas für eine gute Idee. „Die unteren Ebenen sind zu gefährlich.“
„Haben Sie vielleicht eine bessere Idee? Sollen wir vielleicht lieber zurück an die Oberfläche? Die Soldaten haben uns beide identifiziert. Wenn wir uns da oben blicken lassen, buchten die uns sofort ein. Oder erschießen uns gleich.“
„Was wahrscheinlicher wäre“, ergänzte Toluca. Ich schaute die KI durchdringend an.
„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht Sydney, aber ich habe auf beides keine Lust“, knurrte ich. Neben mir holte der verängstigte Regulat zitternd Luft.
„Verdammt, ich hätte euch nie in diese Sache mit hineinziehen dürfen. Ich hätte niemanden mitziehen dürfen. Wenn ich doch nur geschwiegen und so weitergemacht hätte wie bisher, würden sie alle noch Leben.“
Ich ging einen Schritt auf ihn zu und legte beruhigend eine Hand auf seine Schulter.
„Aber wie lange hättet ihr so leben können?“ Er schaute mich mit ängstlichen Blicken an und ich fügte hinzu: „Sie sind als freie Menschen gestorben, Toluca. Und ich denke, das ist das höchste Gut, das ein Mensch haben kann.“
„Der Tod?“, fragte er verwirrt.
„Nein, die Freiheit. Im Leben wie auch im Tod. Was hätte es bewirkt, wenn du einfach so weitergemacht hättest? Nichts. Du, Omega und all die anderen seit Helden, Regulat. Helden die man niemals vergessen wird. Ihr habt den Widerstand ins Leben gerufen und ihr werdet ihn zum Sieg führen.“
Mann, im nächsten Leben sollte ich vielleicht Berufs-Demagoge werden. Ich klang ja schon wie eines dieser elendigen Propagandaprogramme des Protektorates, die einem vor jeden Abendnachrichten vorgesetzt wurden. Wie schwachsinnig deren terranerfeindliche und patriotischen Inhalte waren, wurde mir erst jetzt so richtig deutlich.
„Sieg? Du redest jetzt noch von Sieg? Die meisten sind tot oder versprengt. Es ist zu Ende, noch ehe es richtig angefangen hat!“
„Gar nichts ist zu Ende. Wir haben überlebt. Und wir werden weitermachen. Verstanden?“ Der Hacker schluckte hart und nickte dann.
„Ja, du hast Recht. Wir müssen weitermachen“, sagte er leise, als die Soldaten von oben auch schon an die Stahlluke hämmerten.
„Unsere Freunde scheinen wieder klar zu sein“, zischte ich.
„Wir müssen von hier verschwinden!“, sagte Sydney hastig. „Diese Luke wird nicht lange halten.“
Ich nickte zustimmend und wir ließen uns von Toluca durch die Tunnel führen.
Kapitel 11
Ich hatte mit Protest von Sydney gerechnet, als wir Toluca durch die dunklen Wirren der Wartungstunnel folgten, aber die KI blieb stumm. Vielleicht hatte sie eingesehen, dass es unsere einzige Rückzugsmöglichkeit war, auch wenn das Underwelth ein mehr als gefährlicher Ort war. Mir war ebenfalls mulmig zumute, aber verdammt, ich hatte bereits so vieles überlebt, da sollte ich doch wohl in der Lage sein, einen Kurztrip in die unteren Ebenen zu überleben. Wenn es denn überhaupt bei einem Kurztrip blieb. Ich hoffte nicht, dass wir uns für längere Zeit da unten einquartieren mussten. Wenn ich über die ganze Situation nachdachte, befürchtete ich es fast. Aber ich konnte und wollte mich gar nicht für ewige Zeiten verkriechen, das war einfach nicht meine Art. Außerdem hatte ich noch etwas zu erledigen. Ich konnte Tijuana nicht einfach im Stich lassen.
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