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Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Titel: Nett ist die kleine Schwester von Scheiße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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Dass sie mit den Konsequenzen ihrer Entscheidung allein fertigwerden musste und dass niemand sie davon befreien konnte, wie sie selbst über sich dachte. Seitdem Bo sie verraten hat, fühlt sie sich erstaunlicherweise freier und glücklicher.
     
Einen anderen Menschen bloßzustellen,
ist schlecht – das sieht Thich Bo Hoang anders.
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    Die Geschichte hat mich sehr beeindruckt, das ist also Lin-Chi. Wie viele Menschen wohl in einem Leben stecken, das sie gar nicht leben wollen, und hoffen, dass jemand sie daraus befreit – mit einem Wort, mit einer Geste. Es muss ein wunderbares Gefühl sein, ein Zen-Meister zu sein, denn als normaler Mensch ist es unmöglich, all das zu tun und zu sagen, was zum Beispiel Bo sagt und tut. Wenn ich jedem so unverblümt meine Meinung auf den Kopf zusagen würde, hätte das sicher unangenehme Konsequenzen.
     
    Am späten Nachmittag habe ich einen Termin mit Bo in seinem Büro, bis jetzt habe ich nur auf der Autofahrt mit ihm gesprochen und ihn mit seinen Patienten und am Meditationsabend erlebt. Von 16 bis 17 Uhr hat er eine Stunde Zeit für mich, und ich darf ihm meine Fragen stellen. Also klopfe ich an seine Zimmertür. Falls er es sich anders überlegt haben sollte und mich doch nicht empfangen will, werde ich auf jeden Fall nicht so unsouverän reagieren wie Nadine, das ist schon mal klar. Aber Bo ruft mich herein.
    Natürlich will ich als Erstes wissen, wann er weiß, dass bei einem Menschen dieser eine Moment gekommen ist, an dem er »zuschlagen« muss, um dessen Konzept zu zerbrechen. Was ist, wenn Bo sich irrt und sein Schüler nicht befreit wird von seiner Last, sondern in eine ernsthafte Krise stürzt.
    »Das passiert nicht«, antwortet Bo. »Ich weiß, wie weit ich gehen kann und wann mein Gegenüber so weit ist, dass er mit meiner Konfrontation etwas anfangen kann – und auch wenn sich jemand empört von mir abwendet, bin ich mir sicher, dass das, was ich in ihm angestoßen habe, weiterwirken wird. So wie bei einem meiner Lieblingsschüler, Karim. Karim war sehr ehrgeizig, hielt mich für sein Vorbild und tat alles, um sich dorthin zu entwickeln. Irgendwann schlüpfte er vor den anderen in die Rolle des Lehrers. Ab diesem Zeitpunkt nahm ich die Schülerrolle ein – und zwar die eines sehr nervigen Schülers. Ich fragte und fragte und nahm ihn vor all den anderen Schülern auseinander. Ich habe ihn provoziert und sein Selbstbild zerstört: Es war eine Illusion von Karim, mich zu lieben und als Vorbild zu sehen. Danach hasste er mich – aber wenigstens weiß er jetzt, wo er steht, und ist nicht in der Illusion verhaftet.
    Ich spiele ja eine Rolle. Die Leute haben das Bild von mir, dass ich zugänglich, mitfühlend, zuverlässig und kreativ bin. Aber stimmt das denn? Ich bin doch gar nicht vertrauenswürdig. Ich erzähle ja die Geschichten, die mir hier anvertraut werden, weiter, ich verwende, was mir im Vertrauen gesagt wurde, im falschen Moment gegen sie. Ich habe die Frechheit, das zu machen. Das führt bei den meisten dann wieder zur Bewunderung, aber andere hassen mich dann wie die Pest.«
     
    Manchmal verwendet Bo für seine Provokationen auch Stellvertreter. Menschliche Tretminen sozusagen, die dort, wo sie auftauchen, Ärger machen. »Meine Lieblingstretmine ist Agnès. Agnès kommt seit zehn Jahren hierher und benimmt sich unmöglich. Jedes Mal, wenn ich frage, wer seine Hausaufgaben gemacht hat, ruft sie: ›Ich nicht!‹ Wenn ich am Meditationsabend vorschlage, eine Woche lang glückliche Momente zu sammeln, fragt sie: ›Warum muss ein Mensch überhaupt Glück empfinden, ich finde das doof.‹ Das amüsiert mich. Wenn ich Agnès sehe, freue ich mich schon immer darauf, was als Nächstes passieren wird.«
     
    Agnès hatte ich heute Morgen beim Frühstück kennengelernt. Frühstück gibt es um acht Uhr, und jeder im Kloster beeilt sich, pünktlich zu erscheinen, denn wer zu spät kommt, dem kann es passieren, dass es am Büfett nichts mehr gibt.
    Sobald sich Meister, Mönche und Nonnen an die hinteren Tische gesetzt haben, ertönt ein Gong, dann wird normalerweise gebetet und anschließend schweigend gegessen. Aber an diesem Morgen kam Agnès und begrüßte alle Anwesenden sehr laut mit: »Hallo, guten Morgen. Schmeckt’s?«
    Einige haben sich peinlich berührt umgesehen, ob Bo und den anderen Meistern Agnès’ Verhalten wohl aufgefallen war, aber die frühstücken ungerührt weiter. Ich bin mir sicher, dass einige sich gefragt haben, warum

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