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Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Titel: Nett ist die kleine Schwester von Scheiße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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Gesprächen mit Besuchern und Patienten begleitet und war überrascht, wie erleichternd es ist, einfach alles auszusprechen, was sowieso auf der Hand liegt. Einer Frau sagte er zum Beispiel, sie sei zu angepasst, einer anderen, sie sei unsportlich, einem Mann, der seit 38 Jahren verheiratet ist, gestand er, dass es für ihn eine furchtbare Vorstellung sei, einen anderen Menschen so lange ertragen zu müssen. Alles sehr freundlich und ohne lange Einleitung vorgetragen. Bo reizt oder brüskiert niemanden in seiner Praxis wirklich.
    »Ich gebe Impulse, aber wenn diese nicht aufgegriffen werden, lasse ich das Thema wieder fallen«, erklärt er mir. »Bei diesen Impulsen geht es stets darum, was ein Mensch denkt, was man nicht sagen, fühlen, wünschen oder tun sollte. Ob er die Manieren, seine Lebensumstände oder den Buddhismus hinzuzieht, um sein Verhalten zu begründen, ist nebensächlich. Ich ermutige die Leute dazu, lebendiger zu sein, denn der Preis dafür, nicht zu seinen unerwünschten Gefühlen zu stehen, ist immer hoch: Wir haben viele Seiten in uns, und nur wenn wir anerkennen, dass wir auch anmaßend, unverschämt, lieblos und rücksichtslos sein dürfen, können wir glücklich sein. Schau dir genau an, wer hierherkommt: Es sind Frauen und Männer, die sich von ihrer Lebendigkeit abgeschnitten fühlen. Wer sich nämlich lebendig fühlt, hat anderes zu tun, als hier zu uns zu fahren. Der geht aus, trifft sich mit Freunden, der verschwendet nicht seine Abende im Kloster.«
     
    Das Vesak-Fest sollte in diesem Jahr auch mit internationalen Gästen im Kloster gefeiert werden. Darum hatte sich die Nonne mit dem bürgerlichen Namen Nicole angeboten, die englischen Vorträge der Gäste ins Französische zu übersetzen – schließlich hatte sie ein abgeschlossenes Anglistikstudium. Doch Bo lehnte ab: »Das muss jemand anders machen – du hast eine zu negative Ausstrahlung, du wirfst ein schlechtes Bild auf uns.«
     
    Manche seiner Anhänger reagieren auf seine Bemerkungen empört, andere sind beleidigt. Viele lassen sich nicht anmerken, dass sie sie überhaupt gehört haben. »Aber nächste Woche sind sie wieder da«, erzählt Bo, »und erklären mir, dass sie darüber nachgedacht haben, was ich ihnen gesagt habe.«
     
Zu tun, was man will, und zu sagen,
was man denkt, gilt überall als frech und unverschämt.
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    Viele Menschen, die die Meditationsabende im Kloster oder das Gesundheitszentrum besuchen, werden abhängig von Bo, von seinen Ratschlägen, seiner Meinung, seiner Aufmerksamkeit: »Manche gehen sogar so weit, dass sie mich fragen, ob sie auf die Toilette gehen dürfen. Mein Eindruck ist, dass die Menschen immer wissen wollen, was sie tun sollen. Dass sie viel Angst haben, etwas falsch zu machen. Dass sie eine Anleitung, eine Autorität brauchen, auf die sie sich berufen können.«
    Die Abhängigkeit seiner Schüler macht Bo anfänglich meist Spaß: »Ich finde es lustig, Menschen zu beeinflussen, allerdings ist das nur lustig, wenn man selbst der Akteur ist, das heißt der Kontrolleur – als Mitläufer macht dieses Spiel gar keinen Spaß.« Eine sehr unbuddhistische Einstellung, könnte man meinen. Denn zuzugeben, dass man Macht über andere hat und diese zu seinem Vergnügen benutzt, ist eine eindeutige Provokation gegenüber allen, die solche Machtverhältnisse gerne leugnen.
    »Jedenfalls bleibt diese Abhängigkeit nicht lange amüsant, es wird schnell nervig, wenn man den anderen manipulieren kann. Außerdem geht es darum, diese Abhängigkeit von mir aufzulösen. Dafür provoziere ich die Leute so lange, bis sie mich hassen. Denn wer mich liebt und verehrt, ist unfrei.«
     
    Nach meinem dritten Vormittag in der Praxis gehe ich hinauf in das Büro, in dem zwei Frauen in meinem Alter an ihren Schreibtischen sitzen. Die eine telefoniert, die andere starrt aus dem Fenster. Ich mache mir Kaffee und setzte mich an den großen Tisch in der Mitte. Plötzlich geht die Tür auf, und Nadine, die Projektleiterin, kommt herein und knallt wütend einen Stapel Papiere auf den Tisch. Aus dem Gespräch mit den beiden Frauen erfahre ich den Grund für ihre Verärgerung: Da sie die Buchhaltung macht, braucht sie für eine wichtige Entscheidung das Einverständnis von Bo. Und heute hat er sie zum fünften Mal versetzt, obwohl sie einen Termin vereinbart hatten. Als Jean-Pierre, der Büroleiter, auf ihr Drängen in Bos Zimmer gegangen war und gefragt hatte, warum er nicht zum vereinbarten Termin erschienen sei,

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