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Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Titel: Nett ist die kleine Schwester von Scheiße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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war seine Antwort gewesen: »Keine Lust.«
     
Eines ist sicher: Immer wenn sich jemand
über dich ärgert, bewundert er dich
gleichzeitig für deine Frechheit.
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    »Warum macht er das?«, schreit sie, »ich habe es satt. Ich kündige!«
    »Du weißt doch, wie es hier zugeht«, sagt die Frau daraufhin, die bis eben telefoniert hat. »Du musst das Problem alleine lösen.«
    »Du hast ja keine Ahnung«, ruft Nadine, dann setzt sie sich an den Rechner, hackt auf die Tastatur ein und schimpft vor sich hin. Die Frau kommt nun zu mir an den Tisch: »Ich heiße Julie«, stellt sie sich vor. Julie ist 32 Jahre alt und eine Assistentin von Bo. Ich frage sie, wie lange sie schon im Kloster arbeitet und wie sie dazugekommen ist. Sicher nicht, weil sie Geld braucht, denn Julie ist elegant gekleidet und perfekt frisiert, ihre Schuhe und ihre Handtasche sehen teuer aus. Sie erzählt mir ihre Geschichte. »Vor einem Monat hätte ich mit dir noch nicht darüber sprechen können«, gesteht sie.
    Vor zwei Jahren war Julie mit ihrem Mann, ihrer dreijährigen Tochter und ihrem neugeborenen Sohn nach Amman gegangen. Er arbeitete dort in einem französischen Unternehmen. Für die Hausarbeit hatte sie auf einmal Personal, daher brauchte sie sich nur um die beiden Kinder zu kümmern. Doch sie bekam Depressionen, nichts machte ihr mehr Freude, und für die wenige Arbeit, die sie zu tun hatte, fehlte ihr jede Kraft. Schließlich kam sie in eine Klinik und bekam Antidepressiva. Eines Tages setzte sie sich dann in ein Flugzeug und flog zurück nach Frankreich, ohne sich von ihrem Mann oder ihren Kindern zu verabschieden. Während er in der Arbeit gewesen war, hatte sie ihre Koffer gepackt, sich ein Taxi bestellt und sich zum Flughafen fahren lassen. Dabei quälten sie wahnsinnige Schuldgefühle, was für eine schreckliche Mutter sie doch war, weil sie ihre beiden Kinder zurückließ. Dennoch: Als sie im Flugzeug saß, war sie unendlich erleichtert. Seitdem hat sie weder ihren Mann noch ihre Kinder wiedergesehen. Bo war der erste Mensch, dem sie sich anvertraut hatte, weil sie gehofft hatte, dass er ihr helfen könnte. Er lud sie daraufhin ein, im Kloster zu leben, und half ihr, die Medikamente abzusetzen. Seitdem arbeitet sie für ihn, organisiert seine Termine oder assistiert bei seinen Akupunktur-Behandlungen.
    Eines Morgens waren sie und Bo zu einer Patientin mit starken Rückenschmerzen gefahren. Dort angekommen, erzählte die Frau von ihrem Stress als Selbstständige und alleinerziehende Mutter und mutmaßte, dass auch ihre Rückenschmerzen wohl von diesen Belastungen kämen. Julies Hände begannen zu zittern, und ihre nur mühsam unterdrückten Schuldgefühle überfielen sie: Diese Frau hatte keinen Mann, der für sie sorgte, kein Personal, das ihr die Hausarbeit abnahm, und um ihr Kind musste sie sich auch noch alleine kümmern. Ihr dagegen war es schon zu viel gewesen, ihrer Tochter am Abend vorzulesen.
    Plötzlich fing Bo an, die Frau zu loben. Während er die Akupunkturnadeln setzte, schwärmte er, was für eine gute und aufopferungsvolle Mutter sie doch sei. Die Frau fühlte sich dadurch geschmeichelt und fuhr fort zu erzählen, wie sehr sie ihre Tochter liebe und was sie alles für sie tue. Die Situation wurde für Julie immer unerträglicher, das Gerede der Frau schmerzte sie geradezu körperlich, sie reichte Bo die Nadeln und sehnte den Moment herbei, an dem sie endlich gehen könnten.
    Da meinte Bo: »Sie würden doch niemals zwei kleine Kinder in Amman zurücklassen wie meine Assistentin?« Die Frau starrte sie an mit einem Blick, in dem Julie erst Unglauben, dann Verachtung lesen konnte.
    Julie war schockiert, fassungslos, gerade Bo, dem sie so sehr vertraut hatte, hatte sie verraten, einer fremden Frau ausgeliefert. Niemals hätte sie gedacht, dass er so etwas tun könnte. Die Frau sagte: »So etwas Herzloses könnte ich niemals tun, da würde ich mir lieber das Leben nehmen.«
    Wie in Trance legte Julie die Akupunkturnadeln zur Seite und verließ die Wohnung. Ziellos lief sie durch die Straßen, gequält von dem einen Gedanken: Ich bin keine gute Mutter, ich bin ein schlechter Mensch. Niemand kann mich mehr lieben, nicht einmal Bo. Der Schmerz über seinen Verrat war die größte Enttäuschung, die sie in ihrem Leben bisher gefühlt hatte. Doch dann geschah das Unglaubliche: Sie wurde ruhig und wusste mit einem Mal genau, dass ihr nichts mehr passieren konnte, dass die Verachtung anderer ihr nichts mehr anhaben würde.

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