Neu-Erscheinung
Die Rubrik unschuldiges Opfer war ihnen anscheinend nicht bekannt.
»Herr Nordermann, kann ich Sie gleich zurückrufen?« Ein nervöses Zittern hatte sich in meine Stimme eingewoben. Was ja nun wirklich nicht verwunderlich ist, wenn man von einer Horde Schlipsträger angeschaut wird, als hätte man gerade einen fahren lassen.
»Gerne, Herr Litten, ich habe um elf eine Beerdigung, ab zwölf wäre ich dann aber wieder im Pfarramt.«
»Um zwölf, so machen wir das.«
Ich schaltete das Handy aus. Ein Räuspern vom Kopf des riesigen Konferenztisches kündigte Großes an, ließ aber nur Kleines folgen.
»Gut, nachdem wir nun bis zwölf Uhr Gelegenheit haben, diese öffentliche Bauausschusssitzung mit freundlicher Unterstützung der anwesenden Lokalpresse ohne weitere Störungen durchführen zu können, freue ich mich, die einzelnen Punkte der heutigen Sitzung endlich vorstellen zu dürfen.«
Bürgermeister Jochen Dreckmann war ein strammer Christdemokrat mit lupenreiner Weste, die aber in letzter Zeit hauchzarte Flecken bekommen hatte. Der Mann mit dem formidablen Doppelkinn und einer vermögenden Frau aus der Wurst- und Fleischdynastie Börgelmann (
Es liebt die Wurst von Börgelmann ein jeder, der’s sich leisten kann
), fixierte mich mit einem eiskalten Blick wie Robin Hood den Sheriff von Nottingham.
Die Sitzung verlief ohne weitere Störungen. Nach einer kurzen Beratung wurden folgende Beschlüsse gefasst:
Der Tekturplan von Max, Erika und Ricarda Sangura, Körlitzerweg 29 , 59474 Muenden, zum Umbau und Teilneubau eines Wohnund Geschäftshauses an der Bahnhofstr. 9 auf dem Grundstück Fl.Nr. 106 / 4 , Stadt Muenden, wird aufgrund der erlassenen Veränderungssperre sowie des Aufstellungsbeschlusses eines qualifizierten Bebauungsplanes mit integriertem Grünordnungsplan nicht genehmigt.
Dem Bauantrag von Herrn Hans Joachim Beringer, Waldschlösschen 7 , 59474 Muenden, zum Einbau eines Edelstahlkamins in das bestehende Gebäude auf dem Grundstück Fl.Nr. 815 , Stadt Muenden, wird das gemeindliche Einvernehmen erteilt.
Der Bauantrag von Murat Aischeff und Anna Helga Aischeff, Pankratiusgasse 46 , 59474 Muenden, zum Um- und Ausbau des bestehenden Bauernhofes mit Nutzungsänderung in Wohn- und Gewerberäume wird an das Landratsamt Arnsberg weitergeleitet, nachdem vom Bauherrn keine Äußerung wegen der auferlegten Straßengrundabtretung sowie zu den angesprochenen Änderungen des Eingabeplanes erfolgte.
Ich verließ als Erster die Sitzung, um allen weiteren Fragen und Kritiken schnell, diskret und vor allem so schnell wie möglich zu entgehen. Es war kurz vor 12 , und ich beschloss, Pfarrer Nordermann nicht anzurufen, sondern persönlich zu besuchen.
Ich und Pfarrer Nordermann
Zwischen dem Muendener Rathaus und dem Pfarramt der Sankt Pankratius Gemeinde liegen exakt zwei stockprotestantische Buchhandlungen, die Metzgerei Börgelmann, die VHS , das geschlossene Rex-Kino, vier postmoderne Textildiscounter in Fachwerkhäusern, ein Handyshop, ein luxuriöser Wohnbedarfanbieter mit Räumungsverkaufsabsichten, ein langer mittelalterlicher Schützenwall, mehr oder minder begrünt, jahreszeitabhängig, vier Bierkneipen, drei davon herausragend, eine so abgesoffen wie ihr Wirt, und 10 Fahrradminuten für einen Mann meiner Gewichtsklasse. Trocken. Ich schaffe es auch in acht Minuten, dann aber: nass.
Wenn man einen Geistlichen besucht, sollte man immer darauf achten, trocken zu sein, denn nass wird man früher oder später dann auch vor Ort.
Während wie immer nur bemüht gutgelaunte portugiesische Aushilfskellner die Stühle des italienischen Eiscafés nach draußen trugen und auf der anderen Seite des Kurt-Schmaller-Platzes hippes Bistropersonal komplett auf den Außeneinsatz der Gastronomie verzichtete, betrachtete ich retrospektiv mein wirklich nicht unbeträchtliches Sündenarsenal schäbigster Gräueltaten – nicht immer katholisch relevant, aber irgendwie doch mit dem übelriechenden Makel der Sünde behaftet: vierzehn Mal mit einem abgeleckten Löffel nochmal in den Joghurt gegangen. Schuldig im Sinne der Schimmelplage. Sünde! Das angeblich gestohlene Mathebuch selber verbrannt, weil Bruchrechnung doof ist. Sünde! Die Barbie von Nachbarstocher Kerstin mit einem Pfeil aus 12 Meter Entfernung eiskalt hingerichtet. Sünde! Während der Fastenzeit auf nichts verzichtet. Sünde! Die EC -Karte des eigenen Vaters mit einem Magneten für immer vernichtet. Unabsichtlich. Trotzdem Sünde! Mit einer Adventskerze einen
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