Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
andere von seiner Bewunderung für den Religionsphilosophen Martin Buber, wobei er nie zu erwähnen vergaß, dass »der Buber eine arische Gattin« hatte.
Staatsanwalt Beckmann, fast schon ein Freund, den die Nazis seiner jüdischen Frau wegen jahrelang schikaniert, mit dem Tode bedroht und in einer Munitionsfabrik hatten schuften lassen, hatte sich eingefunden, um den Mann zu verabschieden, von dem er als Einziger im Gericht wusste, dass der noch Schlimmeres erlebt hatte als er selbst. Auch die beiden grauhaarigen Frauen, die bei Sitzungen Protokoll führten und die Fritz nie mit »Fräulein« anreden mochte, obwohl sie unverheiratet waren und besonders altjüngferlich wirkten, hatten es sich nicht nehmen lassen, den Mann zu verabschieden, der sich immer nach ihren betagten, kränkelnden Müttern erkundigte. Gekommen war auch Harald, der mitleiderregende junge Mann mit dem nervösen Augenzucken und den spindeldürren Armen; er war als Obersekundaner bei dem tödlichen Bombenangriff auf Frankfurt am 22. März 1944 sechsunddreißig Stunden lang in seinem elterlichen Haus verschüttet gewesen. Nun fuhr er die Akten und die Gerichtspost durchs Haus – außer Fritz hatte er nur Frau Fink anvertraut, dass er in seiner Jugend davon geträumt hatte, Pilot zu werden.
Neben dem Richter mit der Faszination für Buber stand der liebenswürdige Justizwachtmeister Lehmann, der Schrebergärtner mit dem Riesenherzen und den köstlichen Radieschen. Er hatte Fritz ein Jahr lang mit Salat, Rhabarber, Äpfeln und Kartoffeln aus Seckbach versorgt, mit Herrenwitzen und dem neuesten Gerichtsklatsch, außerdem mit seinen – durchaus zutreffenden – Mutmaßungen über die politische Vergangenheit der Richter, Staatsanwälte und Anwälte.
»Wenn Sie mich fragen, Herr Rat, muss denen allen doch die Kotze hochkommen, wenn sie in den Spiegel gucken.«
»Schlimme Menschen haben meistens einen guten Magen, Herr Lehmann. Die können eine ganze Menge vertragen. Es sind die anderen, die kotzen.«
In der Abschiedsrunde stand allerdings einer, bei dessen Anblick Fritz zusammenzuckte: Hermann Buchholz, ein Mann mit einem großen Kopf und großen Zähnen, der stets in einer schwarzen Jacke, weißem Hemd, brauner Krawatte und mit einer Thermosflasche Kamillentee zum Dienst erschien. Buchholz war auf dem Grundbuchamt tätig. Er versäumte es nie, »dem verehrten Dr. Feuereisen« zu berichten, dass Mutter Buchholz die Synagoge in der Friedberger Anlage hätte brennen sehen und sich dabei so aufgeregt hätte, dass sie einen SA-Mann »fürchterlich beschimpft hat und fast ins KZ gekommen ist. Sie können sich gar nicht vorstellen, was wir damals alle mitgemacht haben, Dr. Feuereisen. Das wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht. Weiß Gott nicht.«
Noch während Fritz seinen Mantel an den Haken hängte und einen Platz für die Aktentasche mit dem Stollen und dem Kapwein suchte, stimmten die Anwesenden »Ich hatt’ einen Kameraden« an. Der Gefeierte errötete, er wusste nicht, wohin er schauen sollte, und musste die Stirn trocken reiben, dachte er doch an die Kriegsgefallenen beider Weltkriege, an Trauerfeiern und Beerdigungen, an verzweifelte Witwen und weinende Kinder, und schließlich schob sich auch noch der Schauspieler Otto Gebühr ins Bild. Als Alter Fritz hatte Gebühr dem Jurastudenten Feuereisen mächtig imponiert. Jeden Film mit Gebühr hatte er sich zweimal angesehen.
Dr. Landmesser stimmte gerade »For he is a jolly good fellow« an. Kollege Binding war der Einzige, der den Text nicht kannte, doch er schlug Fritz kräftig auf die Schulter und sagte: »Wahrhaftig, das ist er.« Das Lied, ursprünglich nur bei Geburtstagen und Ehrungen im kleinen Kreis gesungen und in Deutschland so gut wie nie, hatte seit Kriegsende eine ebenso steile Karriere gemacht wie Chesterfieldzigaretten, Seidenstrümpfe und die blonden Fräuleins.
»Danke«, sagte Fritz. »Ich bin ganz gerührt. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Am besten gar nichts«, riet Dr. Buchholz. »Wir Deutschen haben ja in den letzten tausend Jahren gelernt, dass der Mensch am besten fährt, wenn er den Mund hält und das Denken den Pferden überlässt.«
Weil Fritz das Gespräch mit dem Kaufmann Naumann in der Burgstraße einfiel, gelang ihm erst ein Nicken und dann auch noch die Andeutung eines Lächelns. So erweckte er bei allen außer bei Staatsanwalt Beckmann den Anschein, Dr. Buchholz hätte auch in seinem Namen gesprochen. »Recht haben Sie«, sagte Fritz.
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