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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Morgen und besonders an Clara. Seine Schwägerin sah ganz anders aus als bei ihrer Ankunft, nicht mehr so ausgezehrt und resigniert, oft unerwartet hübsch. Wenn sie mit ihrem Enkelkind lachte oder mit ihrem Bruder diskutierte und sie so schlagfertig und ironisch war wie in ihren besten Zeiten, erinnerte sie Fritz an die junge Clara, die er in dem Lokal in der Kaiserstraße kennengelernt und bewundert hatte. Wie neuerdings oft, geriet er beim Gedanken an Clara ins Grübeln. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er sie und nicht Victoria geheiratet hätte?
    »Du wirst senil, mein Lieber«, murrte er.
    Er stand gerade vor einem Laden, den er – zumindest dem Namen nach – aus der Jugendzeit in Erinnerung hatte. Es war ein elegantes Geschäft mit hübschen jungen Verkäuferinnen, roten Lederstühlen und Schuhlöffeln aus Horn gewesen. Seine Mutter hatte dort jedes Jahr vor den hohen jüdischen Feiertagen neue schwarze Schuhe für den Sohn gekauft und einmal für sich Spangenschuhe aus grauem Lackleder. Von denen hatte sein Vater behauptet, sie sähen »irgendwie verworfen« aus, und dann war der Reis angebrannt, und seine Mutter hatte wütend gesagt: »Das kommt davon.«
    Vier Jahrzehnte später wirkte der Laden noch ärmlicher als die anderen Geschäfte in Frankfurt. Er war in einem lediglich bis zum ersten Stock wieder aufgebauten Haus untergebracht und bot weiße Damensöckchen und beige Herrensandalen an, die im Winter bestimmt keiner kaufen würde. Trotzdem beschäftigte Fritz das Schaufenster, klebte doch an der Scheibe ein kleines, handgeschriebenes Plakat der Städtischen Bühnen Frankfurt. Anfang Januar sollte »Madame Butterfly« herauskommen. »Das ist’s«, sagte er vergnügt. »Puccini. Unser Puccini. Schütt’le alle Zweige dieses Kischbaums.«
    Er würde zur Feier seiner Niederlassung als Anwalt die Familie in die Oper einladen. Fanny hatte noch nie eine Oper gesehen, Clara und Claudette wahrscheinlich das letzte Mal vor der Auswanderung, und Betsy, die bis zu den Nazis nur bei häuslichen Kalamitäten eine Opernpremiere oder ein Konzert ausgelassen hatte, hatte zu viel erlebt und zu viel erlitten, um sich die Freuden ihrer Jugend zu gönnen. Anna, aus den Zeiten von Todesangst und Hunger gewohnt, zum Wohl von Mann und Kindern zu verzichten, war ebenso. Erwin würde allerdings nicht mitwollen. Für ihn bedeutete Oper »die einzige Tortur, die der Mensch freiwillig auf sich nimmt. Wo er noch nicht mal niesen darf, ohne dass ihn einer scheel ansieht, da hat Erwin Sternberg nichts verloren.«
    Fritz war noch bei Madame Butterfly und einem silbergrauen, mit Pailletten besetzten Taftkleid, das Victoria zur Premiere der »Entführung aus dem Serail« angehabt hatte und das bei jeder Bewegung geraschelt und im Prachtfoyer der Oper genauso viel Aufmerksamkeit erregt hatte wie die Gewänder der Diven auf der Bühne, als er in die Klingerstraße einbog. Ein Schornsteinfeger kam ihm entgegen. Der Mann war ein Riese mit Händen wie Dreschflegel und meerblauen Augen, er kaute an einer Brezel, die seinem Format entsprach. Seine Stiefel glänzten, Zylinder, Leiter und Bürsten waren nagelneu. Statt auf die Geldbörse in seiner Jackentasche zu klopfen, wie es beim Anblick des schwarzen Manns seit alters her Brauch war, wenn ein Mensch bis zum Ende seiner Tage glücklich, gesund und reich sein wollte, stellte sich Fritz dem Schornsteinfeger in den Weg und schlug ihm auf die Schulter. »Sie schickt der Himmel«, strahlte er.
    »Jetzt sagen Sie nur, Sie haben Verbindung mit dem da oben!«
    »Nur, wenn der Freitag auf den 17. Dezember fällt.«
    »Das meinen Sie doch nicht ernst?«
    »Sehe ich so aus wie ein Mann, der’s nicht ernst meint?«
    »Dinge gibt’s, die gibt’s nicht.«
    »Das hat meine Mutter auch immer gesagt«, freute sich Fritz. »Genau das. Sehen Sie, Sie fangen schon an, mir Glück zu bringen, Meister. Den Satz habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört, und er wärmt mir das Herz wie ein Kanonenofen. Können Sie sich vorstellen, was ich meine?«
    »Nein«, erwiderte der Schornsteinfeger. »Doch machen Sie sich nichts draus. Ich sag immer, man muss jedem seine Meise gönnen.«
    Als er die Treppe zu seinem Dienstzimmer hochging, fiel Fritz ein, dass er seinen Schreibtisch ausräumen und die persönlichen Dinge einpacken musste. Bei dem Gedanken an die weiße Porzellankatze mit der erhobenen Pfote und dem roten Samtband geriet seine Haut in Brand. Die hübsche kleine Figur, ein Abschiedsgeschenk von Frau

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