Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
»Alles Gescheite ist schon gedacht worden. Das ist nicht von mir, sondern von Goethe.«
Die letzte Scheibe Stollen war gegessen, der Wein ausgetrunken. Frau Fink wollte die Flaschen mit nach Hause nehmen, um sie wegen der englischen Beschriftung und den Bildern vom Tafelberg ihren Kindern zu zeigen. Sie und die drei Richter saßen, weil die Gespräche in dem Moment wieder aufflammten, als Dr. Landmesser dabei war, seinen Mantel vom Haken zu nehmen, noch eine Weile zusammen. Aufgekratzt vom morgendlichen Umtrunk erzählte Binding, wie es ihm gelungen war, »den ganzen verdammten Krieg über im schönen Frankreich« zu bleiben. »Aber mit weißer Weste«, machte er klar und klopfte sich auf die Brust. »Mein Gewissen war immer astrein, falls die Herren Kollegen und unser verehrtes Finkchen bereit sind, die paar Flaschen Cognac abzuziehen und die Butter für meine lungenkranke Mutter. Juristisch gesehen ist das aber in einem Krieg noch nicht einmal Mundraub.«
Dr. Landmesser, der lange keinen Wein getrunken hatte und seit dem letzten Gallenanfall Alkohol schlecht vertrug, machte den Vorschlag: »Und jetzt, wo wir alle Zeit der Welt haben, erzählt uns Dr. Feuereisen endlich mal ein bisschen genauer, wie es ihm gelungen ist, in Holland am Leben zu bleiben. Ich finde, das war schon eine gewaltige Leistung. Sie sollten Ihr Licht nicht immer unter den Scheffel stellen, lieber Kollege.«
Dr. Binding verpasste Richter Landmesser einen Tritt unter dem Tischchen mit den leeren Flaschen und dem Aschenbecher mit den Tannenzweigen. Landmesser verschluckte sich beim Husten und lief puterrot an, Frau Fink knetete den ostpreußischen Wichtelmann in ihrer Rechten, und Fritz sagte – eine Spur zu abrupt und auch nicht glaubwürdig, wie er später mit Bedauern merkte –, er hätte leider noch eine Verabredung, er müsse sich um die neuen Praxisräume kümmern.
»Wann geht’s denn überhaupt los?«, fragte Binding.
»Am 3. Januar. Der zweite ist ja ein Sonntag.«
»Hoppla! Das ist ja schon in zwei Wochen. Weihnachten, Silvester und der Sprung vom Zehnmeterbrett. Alles auf einen Satz. Sie sind ja von der ganz schnellen Truppe, Herr Kollege. An Ihrer Stelle hätte ich mich erst mal vom Rechtsprechen erholt. Sie wissen doch, dass bei Ihnen künftig der gesunde Beamtenschlaf entfällt.«
»In meinem Alter ist es unklug, sich zu erholen. Ich bin der Esel, der hinter der Karotte am Stock herrennt und sie nie bekommt.«
»So schlimm wird’s ja nicht gleich werden. Mein Vater hat immer gesagt: ›Gott belohnt die Mutigen.‹«
»Meiner auch«, sinnierte Fritz, »aber er hat sich geirrt. Oft bekommen die Feigen das größere Stück vom Kuchen.«
»Dann bleibt uns nur noch eins«, zwinkerte Landmesser, der sich sowohl vom Wein als auch von seiner unbedachten Bemerkung erholt hatte. »Wir wünschen Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie genug zu klagen haben.«
Einen Moment war Fritz so perplex, dass er Vergangenheit und Gegenwart durcheinanderbrachte; er wusste nicht, wohin er schauen und was er sagen sollte, aber die Verlegenheit währte doch kürzer als die Freude. Ihm wurde klar, dass er zum ersten Mal seit dem Tag seiner beruflichen Vernichtung vor vierzehn Jahren den alten Juristenscherz von den Anwälten gehört hatte, denen es nur gut geht, wenn sie was zu klagen haben. »Danke«, strahlte er. »Ich werde mein Bestes tun.«
Um die neue Freiheit seines Schwagers zu feiern, hatte Erwin die dritte Flasche Wein aus dem südafrikanischen Liebesgabenpaket seit vier Wochen im Keller versteckt. Zufrieden stellte er die Trophäe auf den Abendbrottisch. »Voilà!«, sagte er, »weil heute Schabbes ist. Wenn wir noch Leuchter hätten, könnte Mutter die Kerzen anzünden.«
»Leuchter hat Gott nicht vorgeschrieben«, erklärte Betsy. Sie stand auf, holte zwei halb abgebrannte weiße Kerzen aus der Küche, stellte sie in zwei Wassergläsern auf und zündete sie an. »Den Segensspruch für das Kerzenanzünden am Schabbes habe ich leider vergessen, aber ich habe mir sagen lassen, bei alten Leuten reichte es schon, es gewollt zu haben.«
»Nicht nur bei den Alten«, wusste Erwin. Er entwand Ora den Korkenzieher, überließ ihr aber den Korken, klopfte Fanny auf die Schulter und hob sein Glas.
»L’chaim«, sagte er. »Du auch, Claudette, du gehörst auch zur Familie. L’chaim.« Es war das erste Mal seit seiner Rückkehr aus Israel, dass er ein hebräisches Wort – den alten jüdischen Trinkspruch – gebrauchte. Claras Augen wurden
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