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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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machen, ihn zu würgen. Es hat sich aber gelohnt, auf die Zähne zu beißen. Schon am nächsten Tag schleppte mich Herr Becker zu dem Mann, dem das Nebenhaus gehört.«
    »Und jetzt sag nur«, fiel Erwin ein, »der hat schon seit Ewigkeiten eine Dreizimmerwohnung leer stehen und hält die ganze Zeit sehnsüchtig nach einem jüdischen Rechtsanwalt Ausschau, weil er seit Hitler keine ordentliche Rechtsberatung mehr gehabt hat.«
    »Ein bisschen von alledem trifft tatsächlich zu. Karl Kramer ist Kommunist. Ich frage mich, wie es ihm gelungen ist, sein Haus zu behalten, während er bei den Nazis eingesessen hat und seine Frau in Russland war. Was er durchgemacht hat, merkt man ihm sofort an, und auch, dass er jenen verbunden ist, denen es ebenso ergangen ist. Natürlich hat er keine ganze Wohnung für mich, aber er hat ein Zimmer in einer Wohnung im ersten Stock. In den anderen Räumen arbeiten ein einäugiger Schneider aus Breslau und ein wegen seiner Nazivergangenheit aus dem Schuldienst geflogener Gymnasiallehrer, der nun von Schreibaufträgen lebt und mich bereits hat wissen lassen, dass es schon immer sein Traum gewesen ist, für einen Juristen zu arbeiten. Im dritten Zimmer wohnt eine junge Frau, die in der Schillerstraße eine Laufmaschenannahmestelle betreibt. Nachts entdeckt sie Amerika beziehungsweise die Amerikaner. Ihr Traumziel ist Heirat, und sollte ihr das gelingen, bin ich für ihr Zimmer vorgemerkt. Vorerst aber reicht der eine Raum. Für mich und meine Tochter.«
    »Nanu! Soll das Frankfurter Mädchen etwa mein unschuldiges Nichtchen anlernen, damit es auch die Amerikaner entdeckt?«
    »Das ist nicht geplant. Es ist jedoch allerhöchste Zeit, dass Fanny Feuereisens Vater ihr beweist, dass auf ihn Verlass ist. Erinnerst du dich noch, Tochter, wir haben das Thema bereits ausführlich erörtert. Auf einer Bank im Zoo. Oder haben sich seitdem die Dinge verändert? Vielleicht hast du nur vergessen, mir mitzuteilen, dass du dich mit der Schule ausgesöhnt hast und gern Geografie studieren möchtest. Oder so was Ähnliches. Das kommt in den besten Familien vor.«
    Fannys Kopf stand in Flammen. Ihr Herz raste, ihre Hände wurden feucht, die Kehle war trocken. Sie schob ihren Stuhl nach hinten, wollte aufstehen, ihren Vater umarmen, ihm sagen, dass sie begriffen hatte. Zu den silbernen Wolken, in die sie in den Tagen des Grauens geflohen war, wollte sie mit ihm tanzen. Die ganze Welt sollte erfahren, dass Dr. Friedrich Feuereisen eine besondere Tochter hatte. Seinen Entschluss, sie von der Schule zu nehmen, würde er nie bereuen. Keinen Tag, nicht eine Stunde.
    Staunen sollte dieser mitfühlende Vater, wie rasch diese einmalige Tochter reagieren konnte. Jedem würde er erzählen, wie furchtlos, begabt und patent sie sei, wie schnell sie Menschen durchschaute und die schwierigsten Probleme löste. »Stenografie hat sie in null Komma nichts gelernt«, würde er in den Straßen und auf den Plätzen verkünden, »und Schreibmaschine noch viel schneller.« Auf den scherzenden Ton dieses vom Glück gesegneten Vaters wollte die kluge Tochter mit dem Witz und der Lässigkeit eingehen, die sie bei Clara bewunderte. Vormachen wollte sie ihm, sie hätte nie mehr an sein Versprechen gedacht, sie von der Schule und der Bedrückung zu erlösen, die ihr das Zusammensein mit Gleichaltrigen bedeutete. Doch sie blieb sitzen und hielt den Kopf gesenkt, wusste nicht, was ihr geschah und wohin sie schauen sollte.
    »Du bist …«, sagte Fanny, als sie endlich ihre Sprache wieder fand, doch der schöne Vergleich mit dem Prinzen, der mit seinem Kuss das schlafende Dornröschen erlöst, wurde zum Stein in der Kehle, zu einem Fels auf der Brust. Sie spürte, dass ein jeder von ihr das große Wort erwartete, die überzeugende Geste, den Jubelschrei der Siegerin. »Nein«, stammelte sie. Ihre Schultern begannen zu beben, sie schmeckte Salz und wurde blind. Dann brach sie in Tränen aus. »Ich bin so glücklich«, schluchzte sie, »so schrecklich glücklich.«
    »Warum weint die Fanny?«, fragte Ora. Sie nannte ihre Mutter immer noch »Ima«, aber sie hatte sich, seitdem sie in der Rothschildallee 9 zu Hause war, endgültig für die Muttersprache ihrer Urgroßmutter entschieden. »Warum weint die Fanny?«
    »Weil Sie ein Kamel von einem Vater hat«, sagte Betsy, »und dieses Riesenross hat nicht ein Quäntchen Fantasie, sich in seine Tochter hineinzudenken. Hat dir denn nie gedämmert, mein lieber, guter, kluger, tüchtiger, immer

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