Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
verständnisvoller Schwiegersohn, dass Menschen, die im Leben zu oft Grund für Tränen hatten, doppelt so viel Zeit brauchen wie die, die Gott verschont hat, um eine gute Nachricht zu verdauen?«
»Es tut mir leid, Fanny«, sagte Fritz, »von Herzen tut es mir leid. Ich bin wirklich ein Esel. Am besten, du gewöhnst dich beizeiten daran, dass Männer keinen Grips haben. Meine Mutter hat immer gesagt: ›Sobald man das Reden den Männern überlässt, geht die Sache schief.‹« Er schaute Betsy unsicher an, drückte ihre Hand.
»Für mich«, versuchte er ihr deutlich zu machen, »ist am wichtigsten, dass du die Idee weder verwerflich noch bodenlos dumm und auch nicht verantwortungslos findest, wenn ein Vater seine Tochter von der Schule nimmt und bei sich im Büro anstellt.«
»Ich«, lachte Betsy, »dürfte die Letzte sein, die das dumm oder verantwortungslos findet. Oder hat dir nie jemand erzählt, dass dein von jedermann bewunderter Schwiegervater Johann Isidor Sternberg seine Tochter Anna zu sich in die Posamenterie geholt hat. Was daraus geworden ist, wissen wir alle. Sie war seine Stütze, sie hat mehr für ihn getan als seine sämtlichen anderen Kinder. Pardon, Erwin, Entschuldigung, Clara, ich hab’s nicht so gemeint.«
»Natürlich hast du’s so gemeint«, sagte Erwin. »Du hast immer gemeint, was du sagst, aber wir waren immer groß im Nehmen, wenn es darum ging, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Nicht wahr, Clara?«
»Gütiger Himmel«, lenkte Betsy ab, »Fanny weint ja immer noch. Mädchen, was willst du tun, wenn dir eines Tages wirklich das große Glück begegnet?«
»Das hier ist das große Glück«, schluckte Fanny.
Es war Claudette, die Zurückhaltende und Zögerliche, die vom Tisch aufstand. Sie setzte ihre Tochter ungewohnt energisch auf Erwins Schoß, trug ihr den Korken von der Weinflasche nach, lief zu Fanny und drückte sie an sich. »Wenn du nicht auf der Stelle zu weinen aufhörst, heule ich mit«, sagte sie leise. »Es kommt alles wieder in mir hoch, die Schule in der Nazizeit, die Lehrer und die Mitschülerinnen, wie meine sogenannten Freundinnen nichts mehr von mir wissen wollten und wie ich mitten im Schuljahr abging, weil ich es nicht mehr aushielt, am Pranger zu stehen. Schaut mal, Claudette Sternberg, sie war mal eine von uns. Alice war die Einzige, die mich verstanden hat. Ihr ist es ja genauso gegangen.«
»So schlimm war’s bei mir natürlich nicht. Ich hab mich nur so entsetzlich fremd und fehl am Platz gefühlt. Ich hab immerzu erwartet, dass mich jemand fragt, weshalb ich am Leben bin. Ich war vom ersten Tag an wie zugeschnürt.«
»Du glaubst gar nicht, wie ich dich beneide, Fanny. Du wirst eines Tages einen Beruf haben. Was habe ich? Ein uneheliches Kind mit der falschen Hautfarbe.«
»Der Satz könnte von deiner Mutter sein«, erklärte Clara. »Nur hat man, als du geboren wurdest, in unseren Kreisen nicht von einem unehelichen Kind gesprochen. Du warst allenfalls ein Malheur, Claudettche.«
»Und der Liebling deines Großvaters«, machte Betsy klar.
»Opa Bär«, lächelte Claudette.
Erst als Ora »Opa Bär« vor sich hin brabbelte und beim ersten Wort immer in die Hände klatschte, wurde Claudette bewusst, wie tief sie in den Brunnen der Vergangenheit abgetaucht war. Nun war sie es, die weinte, und Fanny, die sie tröstete.
»Die beiden haben einander gesucht und gefunden«, grinste Erwin. »Pass auf, die werden noch ganz dicke Freundinnen.«
»Das sind sie schon«, sagte Clara, »vom ersten Moment an.«
Zur großen Silvesterfreude zwei Wochen danach trug die Familie Dietz noch mehr bei als in den Jahren davor. Die siebenjährige Sophie trennte sich – unter väterlichem Druck – für Ora von ihrem geliebten Stoffhasen Hoppel. Ihr fünfjähriger Bruder Erwin versprach in der letzten Stunde des Jahres, sich nie mehr zu grämen, dass »jetzt auch ein alter Erwin zu meiner Familie gehört«. Anna hatte die größte Schüssel aus ihrem Sonntagsservice mitgebracht. In dem Prachtstück aus unvergessener Zeit lag ein Berg Kreppel. Zum ersten Mal seit Kriegsende waren sie mit weißem Mehl und echtem Zucker gebacken und mit Pflaumenmus und nicht mehr mit Honigersatz gefüllt. Hans, auch nach der Währungsreform weiter der Mann für Notfälle, packte seine Überraschung für Fritz erst aus, als das Jahr 1949 bereits eine Stunde alt war: eine kaum gebrauchte Schreibmaschine, zwei Farbbänder, Schreib- und Kohlepapier.
»Mensch, Hans. Wie soll ich dir das danken?
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