Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
Vom Netzwerk:
Ich stell mir vor, dass unsere neuen Hauptstädter die Woche über die ›Wacht am Rhein‹ singen und sonntags ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …‹. Ob sie inzwischen erfahren haben, dass der Text von Heinrich Heine ist? Bei Hitler hieß es ja immer: ›Dichter unbekannt‹.«
    »Warum sollen sie das erfahren haben?«, sagte Clara. »In Frankfurt hat ja auch keiner was erfahren.«
    Erwin steuerte zu dem Dauerthema den neuesten Witz bei. »Fragt einer den Polizisten am Bahnhof in Bonn nach dem Nachtleben dort. ›Die ist heute nach Köln gefahren‹, sagt der Schupo.«
    »Bonbon«, sagte Ora.
    »Recht hast du, du kluges Kind. Nur an Bonbons und nicht an Bonn kann die Welt genesen.«
    Es war Himmelfahrt, um acht Uhr abends noch taghell und sommerwarm. Auf der Rothschildallee war kaum Verkehr, gelegentlich fuhr eines der gelbroten ET-Taxis vorbei, die nur von Amerikanern benutzt werden durften und in denen die Fahrer immer noch Seidenstrümpfe und Zigaretten als Währung akzeptierten. Unter den Spaziergängern waren auffallend viele alte Frauen. Sie trugen dunkle, hochgeschlossene, langärmelige Festtagskleider, die meisten Männer an ihrer Seite schauten zu Boden und nicht mehr ins Leben. Es waren die Amseln und die Meisen, die in den Bäumen zwitscherten, und die hochfliegenden Schwalben, die auch für den nächsten Tag Sommerwetter versprachen, die die Botschaften von Neubeginn und Lebensmut überbrachten.
    In den Vorgärten blühten kleine Apfelbäume. Vor den Häusern gab es keine Salatbeete mehr, stattdessen wieder Rasen mit Gänseblümchen. Stiefmütterchen blühten gelb, violett und weinrot, es gab schon Rosen und Löwenmäulchen. Hecken wurden wieder geschnitten und die Schilder mit den Hausnummern blank geputzt. Von den Balkons hingen Geranien in grünen Töpfen. Für ihren Balkon hatte Betsy am Vortag auf der Bergerstraße Tränende Herzen aufgetrieben, die Lieblingsblumen von Victoria. Otto hatte, ehe er 1914 in den Krieg zog, das Töpfchen für die kleine Schwester mit Vergissmeinnicht bemalt. Nur die Mutter wusste es noch.
    Waren sie in weiblicher Begleitung, mussten die pfauenstolzen sechzehnjährigen Frauenhelden ihre Fahrräder schieben. Beim Lachen hatten die, die von Männerabenteuern träumten, die lauten Stimmen, die Babys ängstigen. Schulbuben in Lederhosen verteidigten kreischend ihre Klicker; sie nannten die Mädchen »Tussis«, schimpften sie »Weibervolk« und ließen sie nicht mitspielen. Zwei alte Männer mit geflickten Hosen und beide in zerschlissenen grauen Pullovern standen am Wasserhäuschen am Anfang der Rothschildallee. Sie tranken abwechselnd aus einer Bierflasche, zogen gemeinsam an einer Zigarre und klagten in einer hohen Tonlage, die bis zu den Häusern drang, über die Zeit, in der sie lebten.
    Ein großer, leuchtend gelb gestrichener Bauernwagen fuhr vorbei. Gezogen wurde er von vier kaffeefarbenen Brauereigäulen, denen man breite rote Bänder in die Mähne geflochten hatte. Hinter dem Kutscher im Zylinder und mit karierter Jacke standen johlende, rotgesichtige Männer. Sie nahmen ihr Recht auf eine Herrenpartie am Vatertag wahr, grölten den Karnevalsschlager »Heute blau und morgen blau« und schwenkten Bembel und Äppelweingläser. Als der Fahrer eines Opel Kadetts an dem breiten Fuhrwerk nicht vorbeikam, ließ er seine Hand nicht mehr von der Hupe. Der Männerchor kreischte: »Opel mit Hut tut nicht gut«, und drohte mit der Faust.
    Frauen, junge und alte, griesgrämige, gelangweilte, muntere und die unermüdlichen Späherinnen, die den Nachbarn ihre letzte Kante Brot neideten, lehnten sich – die Ellbogen auf gerüschte Sofakissen gestützt – zum Fenster hinaus. »Mein Gott«, sagte Betsy, denn die sangesfreudigen Männer im gelben Wagen hatten auch sie ans Fenster gelockt. »Das haben sie immer gemacht. Ob die Welt in Stücke fiel oder es Pech und Schwefel vom Himmel regnete, ob Ehemänner, Söhne und Brüder 1914 blumenbekränzt in den Krieg marschiert sind oder wir 1941 mit dem gelben Stern auf der Brust in den Tod, Deutschlands Frauen haben am Fenster gehockt. Sie haben auf den nächsten Akt des Welttheaters gelauert und ›da capo‹ gerufen. Schon als junges Mädchen, als mir noch nichts widerfahren war außer dem Schmerz, dass mein Vater mir zu den hohen Feiertagen nicht das rote Taftkleid kaufen wollte, das ich mir im Geschäft schon hatte zurückhängen lassen, habe ich mir gewünscht, ich könnte das auch. Dummes Zeug reden und nicht denken. Ich

Weitere Kostenlose Bücher