Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Ich hätte ja keinen einzigen Schriftsatz schreiben können. Noch nicht mal einen Brief.«
»Anna sagt immer, sie hat bei ihrem Vater gelernt, dass man fürs Selbstverständliche nicht dankt.«
»Das war einmal. Ich danke mit allem, was ich kann. Bis an dein Lebensende zahlst du bei mir keine Anwaltsgebühren. Du kannst mich mit allem beauftragen, was anfällt. Außer Scheidung natürlich. Da hätte ich ja einen Loyalitätskonflikt.«
»Kauf mir lieber von deinem ersten Honorar einen guten Cognac«, schlug Hans vor, »und wir besaufen uns alle drei, du, Erwin und ich. Das habe ich mir jahrelang gewünscht. Nur damals hab ich nicht geglaubt, dass ich euch je wiedersehen würde.«
Der Lärm auf der Straße löste um Mitternacht bei der entsetzten Ora einen Tränensturm aus. Ihre Mutter sang ihr »Frère Jacques« vor, ihre Großmutter hängte ihr ihre Kette aus Farbsteinen um, und ihre Urgroßmutter hielt ihr einen Kreppel hin.
»Opa Bär«, lachte das überraschte Kind.
4
Alles neu macht der Mai
Mai 1949
Im Gesangsunterricht und Radiosendungen für die Familie begrüßten die Kinder den Mai immer noch mit den traditionellen Freudenliedern, doch die Erwachsenen waren im Jahr 1949 kaum in der Stimmung, sich über blühenden Flieder und jubilierende Lerchen zu freuen. Sie schimpften über das zu kühle Wetter, hohe Fleischpreise, zu kleine Brötchen, zu niedrige Löhne und ständig steigende Lebenskosten. Die Einheimischen wetterten, dass die Vertriebenen und Flüchtlinge »uns die Arbeit und die Wohnungen wegnehmen und alles in den Rachen gestopft kriegen, was sie schlucken können«. Die amerikanische Militärregierung erweckte noch stärkere Aggressionen. Sie hatte die gesamte Wohngegend rund um das IG-Hochhaus zum Sperrgebiet deklariert. Das für Deutsche verbotene Terrain zog sich vom Palmengarten – auch der war nur für die »Amis« zugänglich – bis zum Hauptfriedhof.
Wilde Geschichten über das, was in den beschlagnahmten Häusern und Wohnungen geschah, machten die Runde. Es hieß, die Amerikaner würden ganze Bibliotheken verbrennen und abends im Garten Wettbewerbe veranstalten, bei denen auf die teuren Vasen und kostbaren Gemälde der rechtmäßigen Besitzer geschossen wurde. Man erzählte sich, ihre Kinder buddelten mit dem antiken Tafelsilber der Beraubten im Sandkasten und schlugen mit Baseballschlägern die Kellerfenster ein. Und die Mütter, die zum anhaltenden Staunen der Bevölkerung mit Lockenwicklern im Haar einkaufen gingen, »lachen sich schepp, wenn’s scheppert«.
Auch wer eine Wohnung hatte, wieder genug Brot auf dem Tisch und eine Arbeit, um die Familie zu ernähren, sang eifrig mit im Klagechor. Der Spargel, der zum ersten Mal seit Kriegsende wieder in den Gemüsegeschäften auslag, war »so unerhört teuer, dass sich unsereinem der Magen umdreht, wenn er nur am Preisschild vorbeigeht«, die Kaffeepreise waren »ein Hohn für anständige Leute«, und »wer auf ein Auto spart, hat nicht alle Tassen im Schrank. Autos für den Normalverbraucher gibt es frühestens im Herbst 2000.«
Als der Wirtschaftsrat für die Bizone die Bewirtschaftung von Textilien und Schuhen aufhob, löste das trotz des großen Nachholbedarfs längst nicht die Freude aus, die nach den langen Jahren des akuten Mangels zu erwarten war. Dafür sorgten die katastrophalen Wohnverhältnisse: Den »Hauptmietern« wurden immer noch vom Wohnungsamt ungeliebte Untermieter zugewiesen, Eltern mussten ihr Schlafzimmer mit ihren Kindern teilen, Feldbetten wurden in Wohnzimmern aufgeschlagen und oft auch in der Küche. So drängte es Deutschlands Frauen weder nach feinen Pumps noch bunten Sommersandalen. Sie sparten Mark für Mark auf den neuesten Schlager: eine viel begehrte Sitzcouch, die sich mit ein paar Handgriffen in ein Doppelbett umwandeln ließ. Auch Betsy träumte vom Verwandlungssofa – Fanny, Claudette und die kleine Ora schliefen in einem Zimmer.
Wer von dem Gedanken an das schicke Sommerkleid mit Bolero und großem Kragen nicht loskam, das seit Ostern in vielen Schaufenstern hing, kaufte gestreiften Baumwollkrepp und nähte das Prachtstück für den Familienspaziergang am Sonntag selbst. Die Zeitschrift »Burda Moden« war gerade auf den Markt gekommen, sie bot zeitgemäße Schnitte an und eine Fülle von Anregungen für die Flucht aus Kittelschürze und Wollrock. Allerdings war auch da der Himmel bewölkt. Deutschlands Frauen, die sich wieder Schlagsahne zur Torte, Berge von Mayonnaise zum Kartoffelsalat,
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