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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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»Eierlikörchen« und »Verdauungsschnäpschen« gönnten, wurden in jeder Ausgabe die Leviten gelesen: Christian Diors begehrter »New Look« bestand auf schlanker Taille.
    »Stell dir vor«, erzählte Fanny, die unter Annas Anleitung dabei war, ein Cocktailkleid zu nähen, »neulich hab ich in der ›Constanze‹ gelesen, dass man ein Kilo pro Woche abnimmt, wenn man jeden Morgen ein warmes Glas Wasser trinkt und jeden zweiten Tag nicht zu Abend isst.«
    »Wenn du das nur ein einziges Mal machst, und ich bekomme Wind davon, trenne ich jede Naht auf, die ich in meinem Leben für dich genäht habe«, drohte Anna. »Was hat sich Hans abgerackert, damit ihr was auf die Rippen bekommt, du und Sophie. Wir hatten immer Angst, ihr werdet lungenkrank. Außerdem, was willst du? Du bist ja ganz schlank.«
    »Wer weiß, wie lange noch?«, sinnierte Fanny. »Ich kann an keinem Bäcker vorbeigehen, ohne mir ein Rosinenbrötchen zu kaufen.«
    »Rosinenbrötchen«, entschied Anna, »machen nicht dick. Der Mensch braucht Süßes für die Nerven.«
    »Wer sagt das?«
    »Ich und die sieben Zwerge.«
    Die Aufhebung der Berliner Blockade am 12. Mai 1949, die immerhin fast elf Monate gewährt und in Berlin und ganz Westdeutschland Unsicherheit und Kriegsangst ausgelöst hatte, beschäftigte die Frankfurter eher am Rand. Sehr viel mehr interessierten sie der Beschluss der Stadtväter, das Goethehaus wieder aufzubauen. Auch wer seit Generationen Frankfurter war und den Tod der Altstadt im Feuersturm vom März 1944 nie verwinden würde, fand es eine Herausforderung, in einer Zeit großer materieller Not »Unsummen für die Schnapsidee von einigen Bekloppten auszugeben«. Es gab kaum einen Journalisten, der den geplanten Wiederaufbau von Goethes Vaterhaus nicht in die Anzahl der Wohnungen und Schulen umrechnete, die man für das Geld hätten bauen können.
    Es wurde Mode, Klagen über die desolaten Wohnverhältnisse in der Stadt mit dem Satz zu beenden: »Wenigstens bekommen wir wieder ein Goethehaus.« Gebildete sprachen von Potemkinschen Dörfern, Architekten und Geschichtsbewusste von einer Farce, Pessimisten mutmaßten: »Demnächst kommt so ein Schlauberger und schlägt vor, die kaputte Oper wieder aufzubauen.« Auch Fanny entkam dem Dauerärgernis nicht. Das Thema des Deutschaufsatzes vor ihrem Abgang von der Schule lautete »Ja oder Nein zum Wiederaufbau des Frankfurter Goethehauses«.
    »Ich hätte«, erzählte sie am Abend, »am liebsten ›es ist mir scheißegal‹ hingeschrieben und Oberstudienrätin Fräulein Dr. Hildegard Burgholz mein Heft auf ihren immer aufgeräumten Schreibtisch geknallt, aber natürlich hat es die brave Fanny nicht gewagt, so etwas Unartiges zu tun. Fräulein Feuereisen blieb treudoof und gehorsam bis zum letzten Tag.«
    »Gott sei Dank hat das brave Fräulein Feuereisen mehr Glück als Verstand gehabt«, rügte ihr Vater. »Wenn du künftig auf die Menschheit losgehen willst, solltest du erst klären, ob du schnell genug laufen kannst. Wer Mut mit Unverschämtheit verwechselt, muss gute Beine haben.«
    »Ist das von Goethe oder von Schiller?«
    »Von Friedrich Feuereisen.«
    Ebenso stark wie das Goethehaus erregte es die Frankfurter, dass die Vollversammlung des Parlamentarischen Rates in geheimer Wahl die Stadt Bonn zur vorläufigen Hauptstadt bestimmt hatte. Ausnahmsweise waren sich die Frankfurter »per Geburt« und die »per Zuzug« einig gewesen: Man hatte felsenfest mit einem Sieg über Bonn gerechnet und erzählte sich, die Rede, in der der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb für den glücklichen Wahlausgang dankte – pikanterweise war er Bonner –, wäre um ein Haar im Rundfunk verlesen worden. Die Enttäuschung über die Absage an Frankfurt hielt monatelang an. Im Gegensatz zu Bonn hätte das zentral gelegene Frankfurt mit seinem großen Flughafen und einem bereits wieder gut ausgebauten Telefonnetz trotz Krieg und Zerstörung die für einen Regierungssitz benötigten Gebäude und Verkehrswege bieten können.
    Selbst Betsy, die immer noch, wie in ihrer Jugend, meistens nur den Kulturteil der Zeitung las, und Claudette und Fanny, die sich ausschließlich durch die Wochenschauen im Kino auf dem Laufenden hielten, beteiligten sich an der Unterhaltung. Westdeutschlands neue Hauptstadt konnten auch sie sich nicht vorstellen. »Euer Vater hat schon immer gesagt: ›Die Rheinländer sind mir nicht koscher‹«, erzählte Betsy. »Ihn machte die permanente gute Laune der Leute dort nervös.

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