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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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bin heute noch der Meinung, dass es sich nur gut lebt, wenn man nichts im Kopf hat.«
    »Ich glaube, da hast du dir was ganz Tückisches zurechtgelegt«, widersprach Fritz. »Leute, die die Dummen beneiden, gehen den Vorurteilen am schnellsten in die Falle. Ich finde, Denken ist unvermeidbar, und Dummheit tut durchaus weh. Nur kommen die Dummen meistens zu spät dahinter, wozu Gott uns einen Kopf gibt.«
    In den Wohnungen standen die Fenster offen, Radios spielten auf voller Lautstärke. Vom Nachbarhaus kamen Sambaklänge. Die Samba war dabei, Deutschland zu erobern; wer nicht gestrig und kleinbürgerlich erscheinen mochte und musikalisch auf der Höhe der neuen Zeit, fand Foxtrott spießig und hatte Sehnsucht nach dem Zuckerhut. Der immer blasse Kaufmannslehrling aus dem Nachbarhaus sah Fanny, für die er demnächst ein Gedicht schreiben wollte, am Fenster stehen und blies ihr einen Kuss herüber. »Denkste«, murmelte die Unnahbare, »auf dich habe ich gerade gewartet, Mister Milchgesicht. Und große Ohren hab ich selbst.«
    »Man kann sich gar nicht mehr vorstellen«, sinnierte Erwin, »dass Deutschland je im Gleichschritt marschiert ist. Die Arme hoch, die Augen fest geschlossen.«
    »Was kann man sich überhaupt noch vorstellen?«, fragte Clara.
    »Dass uns Frau Neugebauer aus dem Parterre erhalten bleiben wird. Ihr Musikgeschmack ist immer noch aufschlussreich. Er war stets im Einklang mit der Zeit. Ihre Erziehungsmethoden übrigens auch. Erinnerst du dich noch, sie hat ihre Kinder mit der Hundepeitsche erzogen?«
    »Man hat sie noch auf der Burgstraße schreien gehört!«
    Bei Neugebauers, die zwei von ihren drei Söhnen an der Ostfront verloren hatten und den dritten, weil er seinen Eltern weder ihre Brutalität noch ihre selbst nach 1945 ungebrochene Hitlertreue verziehen hatte, wurde zum dritten Mal hintereinander die Platte mit dem Erfolgsschlager vom Fasching aufgelegt. »Wer soll das bezahlen?«, fragte der Karnevalist Jupp Schmitz. Er war Kölner und doch der Liebling von ganz »Trizonesien«.
    »Es gibt Tage, da wünsche ich mir unser Klavier zurück«, seufzte Betsy.
    »Wenn ihr beiden nicht übt«, näselte Erwin mit gekünstelter Stimme, »dann gibt es heute keinen Nachtisch. Und nachmittags bleibt ihr zu Hause und schreibt das Gebetbuch ab.«
    »Pfui, du bist genauso schlimm wie früher. Ich habe nie gedroht.«
    »Nur nicht!«, konterte Clara. »Mindestens dreimal am Tag hast du deine empfindsamen, von allen außer ihren Eltern vergötterten Zwillinge bedroht. Meistens mit Kuchenentzug oder ähnlichen Grausamkeiten, aber leider nie damit, dass wir wegen mangelnder Begabung keine Klavierstunden mehr bekommen würden.«
    »Ihr wart nicht unbegabt, ihr wart faul und frech«, lachte Betsy, »unverschämte Bälger wart ihr, der Schrecken aller Klavierlehrerinnen.«
    Sie hatte probiert, die Erinnerung an Josephas Maibowle zu beleben. Am Tag zuvor war sie bis zum Uhrtürmchen auf der Berger Straße gelaufen, ehe sie einen Laden gefunden hatte, in dem es wieder Maikraut gab. Nun wagte es keiner, der eifrigen Hüterin des Herds zu verraten, dass die Bowle zu stark gezuckert war und dass der Wein, den Fanny in einer Losbude auf einem Juxplatz im Ostpark gewonnen hatte, ein todsicherer Garant für Kopfschmerzen und Übelkeit sein würde. Auch der falsche Hase mit zwei hart gekochten Eiern im Leib, an dem sich Betsy nur deshalb versucht hatte, weil vor fünfundzwanzig Jahren falscher Hase das Leibgericht der kleinen Claudette gewesen war, war in der Mitte aufgeplatzt und zu trocken geraten.
    Der missratene Mittagsbraten beschäftigte Betsy noch am Abend. »Ich bin nicht mehr die Köchin, die ich war«, klagte sie. »Charlotte russe jedes Mal ein Treffer und Chateaubriand eine Fingerübung. Das muss man sich einmal vorstellen: Mein Vater schickt mich in ein stinkteures Schweizer Pensionat für höhere Töchter, um Französisch und die feine Küche zu lernen, damit ich einen standesgemäßen Ehemann ergattere, und jetzt zerfällt mir ein ordinärer Hackbraten. Französisch kann ich auch nicht mehr. Ich wollte neulich Ora ›Sur le pont d’Avignon‹ vorsingen und habe noch nicht einmal die erste Strophe geschafft. Am Ende hapert es bei mir auch schon mit der Muttersprache.«
    »Keiner von uns ist der Mensch, der er war«, tröstete Fritz. »Wenn du mich fragst, war seit jeher kein Verlass auf falsche Hasen.«
    Er zwinkerte seiner Tochter zu. Fanny wusste, was er meinte, sie zwinkerte zurück, hob ihr Glas und

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