Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Harmonists geschwärmt. Was mag aus ihnen geworden sein?«
»Drei waren jüdisch«, wusste Fritz.
Auch Erwin war nicht in der Gegenwart, denn er nannte Oras Katze »Schnurrdiburr« und redete sie gleich zweimal hintereinander als Alice an, merkte jedoch rechtzeitig, dass er dabei war, sich im Irrgarten der Bilder zu verlaufen. »Das kommt davon, wenn man beim Altwerden nicht aufpasst«, erklärte er der zärtlichen Katzenmama. »Du bist nicht Alice, Schnurrdiburr ist eine Katze bei Wilhelm Busch, und demnächst verwechselt dein Onkel Gott mit dem Teufel und muss das ganze Jahr Matze essen.«
»Die Verwandtschaftsverhältnisse verwechselst du jedenfalls heute schon«, stellte Clara fest. »Du bist nicht Oras Onkel, du bist ihr Großonkel. Um Onkel zu werden, bist du zu alt.«
»Nicht, so lange unser fruchtbarer Leon in Kapstadt Gottes Gebot folgt und weiterhin kleine Zuckermans macht«, grinste Erwin.
Ob es eine Tram in die Taunusanlage gebe, erkundigte er sich. Er merkte, dass ihn alle anstarrten, als hätte er etwas Ungehöriges gesagt, schlug sich theatralisch an die Stirn und wiederholte seine Frage. Allerdings wartete er nicht ab, ob sich einer mit den neuen Verkehrsverbindungen in der Stadt auskannte, sondern deutete auf den Kalender und fragte kopfschüttelnd: »Was soll unsereiner denn vom Leben erwarten, wenn sich schon der Erste Mai wie eine Rübensau benimmt? Der Tag der Arbeit ist ja auf einen Sonntag gefallen.«
»Warum siehst du beim Sprechen ausgerechnet mich an?«, wollte Fritz wissen. »Aus gutem Grund nehmen Freiberufler keinen Anstoß, wenn ein gesetzlicher Feiertag auf einen Sonntag fällt. Das habe ich schon bei meinem Vater gelernt.«
»Ich auch. Immerzu. Dem wäre es am liebsten gewesen, wenn man alle Feiertage abgeschafft hätte. Dass ich dich angeschaut habe, ist reiner Zufall, mein Lieber. Neuerdings neige ich zum Schielen, wenn ich mit klugen Leuten rede. Dann vergesse ich auch, was ich sagen wollte.«
»Lass dich bloß nicht ins Bockshorn jagen, Fritz. Mein Bruder hat in der Schule noch nicht mal beim Spicken geschielt, und von dem, was er sagen will, vergisst er auch dann kein Wort, wenn er in der Hölle schmort. Allerdings neigt er im Alter dazu, Neuigkeiten durch die Blume zu verkünden. Herrn Sternberg interessiert es einen feuchten Kehricht, ob der erste Mai ein Sonntag war oder ob Weihnachten dieses Jahr auf Silvester fällt. Er will uns etwas ganz anderes sagen, aber im Moment weiß er noch nicht, wie. Stimmt’s, Erwin?«
»Zu zwei Drittel Komma fünf, Fräulein Cassandra. Sie sind noch ganz die Alte.«
»Das will ich auch hoffen.«
Betsy nickte – aus Gewohnheit, nicht, weil sie beim Thema war. Distanz zu halten und keinem recht zu geben war eine früh entwickelte Eigenschaft von ihr, um sich vor den Eifersüchteleien, dem Temperament und dem Behauptungswillen ihrer fünf persönlichkeitsstarken Kinder zu schützen. In der letzten halben Stunde hatte sie sich ausschließlich mit den Büchern beschäftigt, die sie nach der Währungsreform gekauft hatte. »Man müsste wieder einen Bücherschrank haben«, seufzte sie.
»So einen wie früher«, sagte ihre Tochter. Weil ihr der Dialog vertraut war, seufzte sie in gleicher Tonlage. Clara fürchtete die Momente, in denen ihre Mutter in der Vergangenheit war. Da wurden Worte zu Stacheln und schmerzschwarze Bilder quälend deutlich. »Ein Bücherschrank lohnt sich nicht für jemanden, der noch keine dreißig Bücher besitzt«, rechnete Clara ihrer Mutter vor. Sie schaute Betsy beim Sprechen nicht an. Auch sie hatte die Vergangenheit nicht verschont; sie war wieder sieben Jahre alt, hatte Zöpfe mit weißen Schleifen, die bis zur Taille reichten, trug ein Matrosenkleid mit großem Kragen und stand im elterlichen Salon vor dem mächtigen Bücherschrank mit den furchterregenden Löwenpranken und einem goldgelben Puschel am Schlüssel. Ihr soldatenbesessener Bruder Otto hatte ihr weisgemacht, er hätte den Puschel einem französischen General abgenommen. Jahre später pflegte Erwin verhauene Mathematikarbeiten und seine vielen und sehr gelungenen Zeichnungen von nackten Frauen zwischen Band sieben und Band acht der Goethe-Gesamtausgabe in rotem Leder zu verstecken.
»Komisch«, sagte Clara, »daran habe ich nie mehr gedacht.«
»Es ist immer das erste Mal«, wusste Erwin. »Wo bist du gewesen, wen hast du getroffen, wer von den Toten lässt mich heute grüßen?«
»Wenn ich das wüsste! Es geschieht neuerdings öfter, dass ich
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