Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
sie Menschen nie so durchschaut wie du. Selbst bei ihrem antisemitischen Schuldirektor hat sie lange gedacht, er hätte nur schlechte Laune.«
»Was mein Gefühl für Menschen betrifft«, erkannte Fanny, »hat mich die Zeit geprägt, als wir immer Angst haben mussten, dass irgendeiner das Judenbalg entdeckt und zur Polizei zerrt. Ich bin ja jahrelang nicht vor die Tür gekommen. Da guckst du bei den paar Leuten, die du überhaupt zu sehen bekommst, genau hin. Im Rückblick betrachtet, habe ich im Luftschutzkeller mehr über Menschen gelernt, als man wissen sollte. Ach, du lieber Himmel, ich glaube, Erwin hat vergessen, dass er erst gestern gebadet hat. Ich höre Wasser in die Wanne laufen. Sag nur, er hat sich die Mühe gemacht, für sich allein den Badeofen zu heizen. Großmutter erwürgt ihn. Das waren unsere letzten Kohlen.«
Erwin zog es selbst bei Schnee und Glatteis aus dem Haus. Seit seiner Rückkehr aus Israel war ihm kein Weg zu weit und keine Idee zu ausgefallen, um ihn von seinem Leben ohne Arbeit und ohne Zukunft abzulenken. Trotz Sonnenschein und Maistimmung war er jedoch den ganzen Feiertag in der Wohnung geblieben; er hatte Dokumente gesichtet, Akten angelegt, Briefe geschrieben und nach Büchern verlangt, die im Hause Sternberg nur noch Erinnerung waren. Er war übellaunig auf den Speicher gegangen und noch missgelaunter zurückgekehrt. Mittags hatte er kaum gegessen, Betsy hatte ihm Kopfschmerztabletten geben müssen und Clara Tropfen gegen Übelkeit. Während das Geschirr noch auf dem Tisch stand, hatte er sich auf die Couch gelegt und war umgehend eingeschlafen. Ora hatte ihn mit »Häschen in der Grube« auf der Mundharmonika geweckt, und der Mann, der ihr sonst alles erlaubte und alles verzieh, hatte sie so wütend ausgeschimpft, dass sie kaum zu beruhigen war.
Betsy hatte ihren Sohn ein Monster genannt, selbst Fritz, der immer Verständnisvolle, hatte ihn anklagend angestarrt. Mit Clara hatte sich Erwin ausgerechnet über den Namen von Schopenhauers Pudel gestritten, über Claudette hatte er sich lustig gemacht, weil sie nicht wusste, dass die Schopenhauerstraße parallel zur Leibnizstraße verlief. Als Erwin dann mitten beim Abendessen verschwand, hatte sogar Betsy, die bei Streitereien in der Familie prinzipiell so tat, als würde sie nichts mitbekommen, ihre Zurückhaltung aufgegeben. »Genau wie früher«, hatte sie ihm nachgerufen. »Auf deine Launenhaftigkeit war immer Verlass. Wenn dir was über die Leber lief, ging selbst Josepha in Deckung.«
In dem Moment, da Claudette und Fanny mit dem gespülten Geschirr aus der Küche zurückkamen, erschien auch Erwin wieder im Wohnzimmer – frisch rasiert und strahlend. Er roch stark nach Pitralon, das es erst seit Kurzem wieder zu kaufen gab, hatte sein Haar gewaschen, ein weißes Hemd an und seine geliebte dunkelblauweiß gestreifte Krawatte, von der er zu behaupten pflegte, der Herzog von Windsor hätte sie ihm zum Geburtstag geschenkt. Sein graues Tweedjackett, in den Dreißigerjahren im Frankfurter Kaufhaus Wronker gekauft, mit ihm nach Palästina ausgewandert und wieder zurück nach Frankfurt gereist, wirkte so jugendfrisch wie er selbst. »Nu?«, fragte er.
Das vertraute »Nu?« in dem schwingenden Ton des untergegangenen Lebens, immer nur gebraucht, wenn Erwin in Hochstimmung war, die Bewegung seiner Hände und erst recht sein Lächeln zeigten an, dass Betsys unberechenbarer Sohn sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Auf den verblüfften Gesichtsausdruck seiner Mutter, nach Fannys erstauntem »Donnerwetter!« und nach einer Folge von Tönen aus dem Mund seiner Schwester, die sich weder als Zustimmung noch als Ablehnung deuten ließen, reagierte der verwandelte Erwin auf vertraute Art. »Man wird sich doch mal als Mensch verkleiden dürfen, ohne dass man gleich als ein Betrüger verdächtigt wird«, meinte er. »Nein, verehrte Anwesende, der beschuldigte Erwin Sternberg hat nichts zu seiner Verteidigung zu sagen. Er bittet aber zu berücksichtigen, dass er sich lediglich außer der Reihe den Hals gewaschen und sein Innenleben ausgekehrt hat.«
Er setzte sich in den geblümten Ohrensessel, den ein Mandant Fritz als Honorar überlassen hatte, nahm Ora, die auf dem Fußboden ihr dreibeiniges Plüschkätzchen in den Schlaf schaukelte, auf den Schoß und begann laut zu pfeifen.
»Veronika, der Lenz ist da«, erkannte Betsy.
»Mein Gott«, sagte Clara. »Du verstehst es, einem die Ruhe zu nehmen. Wie habe ich für die Comedian
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