Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
trank beherzt einen Schluck der großmütterlichen Bowle. Für den nächsten Tag hatte sich Fürchtegott Kehrmann in der Einzimmerkanzlei in der Biebergasse angesagt. Weder Rechtsanwalt Dr. Feuereisen noch seine lerneifrige Gehilfin Fräulein Fanny konnten dem Charme und der guten Laune von Herrn Kehrmann widerstehen. Der Casanova mit dem Frankfurter Mundwerk hatte vor zwei Monaten seine vor dem Krieg in der ganzen Stadt bekannte Weinhandlung in der Friedberger Anlage wiedereröffnet. Nun war er dabei, sowohl seinen ehemaligen Kompagnon wegen Untreue und Beleidigung zu verklagen als auch seinen Hauswirt, dem er nebst Beleidigung auch Diebstahl unterstellte. Der einträgliche Mandant erschien zu jeder Konsultation bei seinem Anwalt mit zwei Flaschen Moselwein, einer Tafel Schokolade für »das werte Fräulein Tochter« und dem erleichterten Seufzer, dass »es wie ein Heimkommen von einer langen Reise ist, Herr Doktor, wieder bei einem jüdischen Anwalt zu sein«. Jedes Mal, wenn er die Praxis verließ, überlegten Fanny und ihr Vater, ob sich Fürchtegott Kehrmann je heimisch genug bei seinem jüdischen Anwalt fühlen würde, um auf die Sympathiekundgebungen zu verzichten, die Vater und Tochter peinlich waren.
»Was ist mit Erwin los?«, fragte Fanny, als sie und Claudette in der Küche das Geschirr vom Abendessen versorgten. »Er kommt mir so merkwürdig vor. Er ist ja schon den ganzen Tag nicht er selbst.«
»Mir fiel das schon beim Frühstück auf, aber ich habe auch jetzt nicht die geringste Ahnung, was ihn beschäftigt. An unserem letzten Abend in Tel Aviv war er genauso. Zerfahren und blass. Er hat immerzu die Koffer gezählt, unsere Pässe kontrolliert und wie ein alter Mann vor sich hin gemurmelt. Selbst meine Mutter, der ja selten was die Sprache verschlägt, hat nicht gewagt, ihn anzusprechen. Es war eine furchtbare Stimmung.«
»So schlimm ist er ja heute nicht. Ich finde ihn nur komisch und zappelig. Ihn hält es ja keine zehn Minuten auf einem Stuhl. Und dann die Szene am Abendbrottisch. Steht mitten beim Essen auf und verkrümelt sich. So etwas tut er doch sonst nicht. Ich glaube, unser gemeinsamer Onkel unterlässt mit Rücksicht auf Großmutter ohnehin das meiste, was er gern tun möchte.«
»Ich staune immer wieder, wie gut du Menschen beobachtest, Fanny. In deinem Alter war ich längst nicht so weit. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass du dich mit einem Jüngling in einer Orangenplantage eingelassen hättest, ohne mitzubekommen, dass er so dunkel war wie die Nacht, in der es geschah. So, jetzt weiß wenigstens eine in dieser Familie, woher Ora ihren dunklen Teint und die schönen schwarzen Kulleraugen hat.«
»Bist du ganz sicher, dass ich das alles wissen soll, Claudette?«
»Ganz sicher. Ich bin keine, die drauflosplappert. Nicht mehr. Ich wollt dir schon lange erzählen, wie die Jungfrau zum Kind kam. Meine Mutter und Erwin grübeln seit vier Jahren über den Mann. Wenn sie danach fragten, habe ich immer geantwortet, er stamme von der Königin von Saba ab, was wahrscheinlich gar nicht mal ganz falsch ist. Seitdem ich denken kann, war es das einzige Mal, dass mir eine Antwort eingefallen ist, die Erwin und meine Mutter aus der Fassung gebracht hat. Sie saßen beide mit offenem Mund da und gafften wie die Mondkälber. In der mondlosen Nacht meiner Verführung waren alle Katzen grau. Ich bekam gar nicht mit, wie viel mir Oras künftiger Vater von dem Zaubertrank einflößte, der mich dazu brachte, an Puck und den Sommernachtstraum und das Frankfurter Theater zu denken und nicht daran, dass uneheliche Kinder bei mir in der Familie liegen. Er versprach mir silberne Ohrringe, jeden Tag einen Brief und die Ehe, aber ich habe ihn nie wieder gesehen. Vier Wochen später ist er umgekommen. Bei einem Überfall auf ein englisches Camp, das er in die Luft sprengen sollte. Von ihm blieb nur die Postkarte, die er zwei Tage vor seinem Tod geschrieben hat. Und Ora. Wahrscheinlich ist sie ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Wenn du noch ein Wort sagst, Claudette, heule ich all die Tränen, die ich jahrelang nicht weinen konnte. Du glaubst gar nicht, was es für mich bedeutet, dass du so offen mit mir redest. Seitdem du in Frankfurt bist, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, eine Freundin zu haben.«
»Mir geht’s genauso. Obwohl du ihr nicht ähnlich siehst, sehe ich immer Alice in dir. Sie war zwar drei Jahre älter als ich, doch wir waren ein Herz und eine Seele. Nur hat
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