Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
mich in meinem Leben verirre.«
»Wer das nicht erlebt, hat nichts erlebt.«
Seitdem Erwin ihre Enkeltochter Alice genannt hatte, beschäftigte Clara der Gedanke, ob auch sie seit der Rückkehr nach Frankfurt so geworden war wie er, ruhelos, zerfahren, mit sich hadernd und ständig auf der Suche. Auf der Suche nach was?
»Nach dem Rest vom Leben«, murmelte Clara. Sie schaute zu Fanny und Claudette hin. »Bei denen«, sagte sie und verschränkte die Arme, »fängt es früh an, dass die Zeit rückwärtsläuft.«
Die beiden wirkten wie kleine Mädchen, die dabei sind, sich ewige Treue zu schwören. Sie hockten mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, kicherten und ermahnten einander immerzu, leise zu sein. Offenbar fürchteten sie, es könnte zu früh durchsickern, dass sie Pläne für den Samstagnachmittag machten.
»Los«, drängte Fanny, »es ist schließlich deine Mutter.«
Claudette hatte die weit aufgerissenen Augen ihrer Kinderzeit, denen ihr Großvater nicht hatte widerstehen können. »Omi Clara«, sagte sie mit der niedlichen Bettelstimme von damals. »Meinst du, es würde dir Freude machen, den Samstagnachmittag mit deinem Enkelchen zu verbringen? Sie wünscht es sich so, unser Sonnenscheinchen.«
»Möchtest du nicht viel lieber mit deiner gerissenen Mami ins Kino gehen, statt in dem schmutzigen Sandkasten auf der Günthersburgallee zu buddeln, Ora? Sag ihr, ihr altes Mütterlein hasst Diminutive, hat immer noch all ihre Sinne beisammen und kommt auch auf die Berger Straße. Außerdem kann sie lesen.«
Der Film »Liebe 47« mit Hilde Krahl und Karl John, gedreht nach Wolfgang Borcherts erfolgreichem Theaterstück »Draußen vor der Tür«, lief gerade in den Blumen-Lichtspielen auf der Berger Straße. Fanny schwärmte seit dem Film »In jenen Tagen«, der sie tagelang beschäftigt hatte, für Karl John. Für Claudette hatte das Kino auf der Berger Straße einen besonderen Reiz. Die Berger Straße war für sie Kindheit und Jugend, die Erinnerung an die erste Liebe, an forsche Studenten, die sich auf Komplimente verstanden, und an schüchterne Tanzstundenkavaliere, die Gedichte schrieben und ihrer Herzdame in die Schultasche steckten. Alle hatten sich danach gedrängt, die muntere, immer fröhliche, von jedermann begehrte Claudette Sternberg ins Kino zu führen.
»Danach ging es ins Tanzcafé«, erzählte sie Fanny. »Ich war die Königin in der Tanzstunde, musst du wissen. Großvater hat mir jedes Kleid gekauft, das ich haben wollte, und die teuersten Schuhe. Einmal sogar goldene. Die ganze Klasse hat mich beneidet. Mutter hat wie ein Marktweib gezetert, wenn ich mit meiner Beute ankam. Sie war total versessen darauf, ein bescheidenes kleines Aschenputtel großzuziehen. Weiß der Teufel, woher sie den Prinz nehmen wollte, der mich heiraten sollte. Es war ihr ja schon nicht gelungen, einen Mann zu finden.«
»Vielleicht wollte sie nicht. Ich bin mir absolut nicht sicher, ob ich heiraten will.«
»1933 war’s ohnehin auf einen Schlag aus«, sagte Claudette. »Aus mit den Kleidern, aus mit der Tanzstunde, den feinen Abschlussbällen und den stolzen Mamis auf der Drachenburg, die ihre Töchter für einmalig hielten. Und erst recht aus war es mit meinen Anbetern. Die hätten sich lieber kreuzigen lassen, als sich mit einem jüdischen Mädchen auf der Straße zu zeigen. Nicht einmal mehr grüßen durften mich die blonden Recken. Die rannten förmlich auf die andere Seite, wenn sie mich sahen.«
»Hast du dich denn schon mit fünfzehn für Jungen interessiert?«
»Du kannst Fragen stellen! Wie soll ich heute wissen, wie alt ich war, als ich mich für das schönste Mädchen der Welt hielt? Es ist alles so lange her. Aber warum soll ich besser sein als mein Onkel? Obwohl der tausendmal klüger ist als ich, bringt der ja auch sein Leben durcheinander.«
»Ich glaube, der tut nur so«, spürte Fanny. »Du musst ihm in die Augen schauen, wenn er spricht. Augen lügen nicht.«
»Nu?«, sagte Clara. Sie sprach das Wort der unbegrenzten Möglichkeiten im gleichen Tonfall aus wie zuvor Erwin, denn sie hatte den gespannten, triumphierenden Gesichtsausdruck seiner Kinderzeit erkannt und wusste sich auf dem richtigen Weg. Es war Erwin nie gelungen, sie zu täuschen. Die Fessel, die Bruder und Schwester aneinanderband und die sie nie hatten lösen können, ließ Täuschungen nicht zu.
»Los, mach schon, Erwin. Dein Gesicht spricht Bände, und ich kann immer noch zwei und zwei zusammenzählen. Das letzte Mal hast du
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