Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
sie den Feiertag in jüdischer Umgebung verbringen können. Und fremder als ich an diesem Tag in meiner mir fremd gewordenen Geburtsstadt war, konnte wahrhaftig niemand sein.
Dr. Feuereisen wohnt in der Rothschildallee. Seiner Schwiegermutter gehört das Haus. Er hat dafür gesorgt, dass sie es wiederbekommen hat und jetzt sogar in ihrer alten Wohnung wohnt. Das macht mir mehr Mut für meine Mission hier als das ganze Gequatsche vom Anwalt in Montevideo und sämtliche Ratschläge unserer schlauen Freunde. Dr. Feuereisens Familie ist, berücksichtigt man die Zeit, in der wir leben und was uns Juden seit 1933 geschehen ist, geradezu riesig. Da gibt es zunächst die achtzehnjährige Tochter Fanny (sie wurde während des Kriegs von ihrer Tante Anna versteckt, die aus irgendeinem Grund, den ich noch nicht kapiert habe, nicht jüdisch ist), dann ihre Großmutter Betsy (hat Theresienstadt überlebt und dort ihren Mann, ihre Tochter und ihren Enkelsohn verloren), weiterhin gibt es Betsys neunundvierzigjährigen Sohn Erwin mit Zwillingsschwester Clara und deren Tochter Claudette, die zwar einunddreißig ist, aber mindestens zehn Jahre jünger wirkt. Sie sieht der hübschen Tochter von Goldbaums, mit der Ihr mich ja immerzu verkuppeln wollt (ja, ich habe es gemerkt), unglaublich ähnlich – nur, dass Claudette nicht stottert und auch nicht dauernd von Kleidern und Handtaschen redet. Sie redet ohnehin nicht viel. Ihre dreijährige Tochter Ora, ein schokoladenbraunes Kind mit Riesenaugen, ist das Souvenir eines unbekannten Soldaten aus Israel und ein besonders bezauberndes Geschöpf. Sie hat mir sofort das Herz gebrochen. Erwin, Clara und Claudette sind 1937 nach Palästina entkommen und über zehn Jahre später nach Frankfurt zurückgekehrt.
Fritz war mit Betsys Tochter verheiratet, die zusammen mit dem Sohn der beiden im Osten ermordet wurde. Er vermutet Auschwitz. An der großen Tafel saßen ebenfalls die oben erwähnte Anna, ihr Mann Hans, der im Krieg ein Bein verloren hat, seinen Beruf als Drucker aber ausübt, und deren drei Kinder. Die ganze Familie glüht vor Warmherzigkeit. Ich war so beschäftigt, die vielen Leute auseinanderzuhalten, und so verwirrt, dass ich mir wie ein Dorftrottel vorkam, und so habe ich mich auch benommen. Prompt habe ich die Broche* für Brot mit der für Wein verwechselt. Beim süßen Fisch musste ich mir die Serviette vors Gesicht halten, damit keiner mitbekam, dass ich feuchte Augen hatte. Der Fisch hat genauso ausgesehen und geschmeckt wie früher bei Oma in Neu Isenburg. Als die Köchin mir vom Huhn nachlegte und sagte: »Auf einem Bein kann man nicht stehen, Bub«, und dazu noch den gleichen Dialekt hatte wie meine geliebte Kinderfrau »Emma, die Elefantenmama« und letzten Endes auch Ihr beide, habe ich vor Schreck und Rührung den Mund nicht mehr geschlossen.
* Segensspruch
Ich bin noch nicht dahintergekommen, wie sich Feuereisen und Co. schon wieder eine Köchin leisten können. Josepha war schon vor Hitler im Haus – soviel ich mitbekommen habe, jahrzehntelang und bis zum bitteren Ende. Erwin, ein wirklich witziger und liebenswerter Mann, scheint sie nach langem Suchen in einem Altersheim aufgespürt zu haben. Von dort zieht sie nächsten Monat in die Rothschildallee. Zu Jom Kippur war ich wieder eingeladen – sowohl zu Fastenbeginn (genau wie bei uns mit Kalbfleisch und Reis) als auch zum Fastenbrechen (ebenfalls wie bei uns, mit Challa und Honig). Heute habe ich Hans geholfen, die Sukka** zu bauen – meine neuen Freunde sind zwar alle nicht fromm, doch Frau Betsy sagt, wo es Kinder gibt, muss man ihnen eine Sukka bauen. Auch das erinnert mich an die Zeit, als wir im Röderbergweg wohnten und ich gedacht habe, dass alle Menschen Juden sind.
** Eine mit Früchten dekorierte Hütte aus Zweigen, Laub und Stroh, die zum Laubhüttenfest (Sukkot) entweder im Garten oder auf dem Balkon aufgestellt wird und den Menschen an die Vergänglichkeit von Erfolg und Reichtum erinnern soll und wie schutzlos er ohne die Hilfe Gottes ist.
Betsy Sternberg macht mich immer wieder sprachlos. Ihr Mann war Johann Isidor, der angesehene Handelsmann, an dessen Namen selbst ich mich sofort erinnerte, er hatte früher die Posamenterie in der Hasengasse, woher Du, liebe Mutter, ja immer die schönen Stoffe und Borten mitgebracht hast, die unsere Rosel so faszinierten. Sie ist schon siebenundsiebzig, war fast vier Jahre in Theresienstadt und verlor nicht nur Mann, Tochter und Enkelkind. Sie hat all das
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