Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Deutschland zu der Erkenntnis kam, jüdische Studenten hätten dort nichts zu suchen.
Fritz sagt, es kommt gar nicht darauf an, dass ich heute wirtschaftlich nicht schlecht dastehe. Entscheidend ist, dass ich 1933 von der Uni gehen musste und in der Emigration schon wegen der Kosten und der fremden Sprache nicht mehr studieren konnte. Du, lieber Vater, kannst laut Fritz erst recht Ersatzansprüche an die neue Bundesrepublik stellen. Erstens für das Jahr im Gefängnis in Frankfurt, das dich deine Zähne gekostet hat, und zweitens für die elf Monate in Dachau, die dich noch viel mehr gekostet haben – einschließlich deiner Vaterlandsliebe und deinem Vertrauen in die deutsche Justiz und Kultur. »Mein Anwalt« erbittet so schnell wie möglich von dir die Entlassungsscheine vom Gefängnis in Frankfurt und von Dachau.
Mutter, vor Dir ziehe ich den Hut. Du warst ja die Einzige in der Familie, die auf die Idee kam, die Papiere der deutschen Schande aufzuheben. Für das, was uns in der Kristallnacht außer dem Glauben an Deutschland abhandenkam, als sie uns die Wohnung zerschlugen und auf die Elefantenmama losgingen, die unser Kristall beschützen wollte, macht mir Fritz keine Hoffnung. Wir müssten bei jedem Stück, das wir hatten, beweisen, dass es da gewesen ist. Offenbar reicht der deutschen Justiz nicht das, was heute jedes zwölfjährige Kind über den 9. November 1938 weiß. Sofern es jüdisch ist. Ich war bisher noch nicht in Offenbach, aber Fanny, die sehr hilfsbereit und fest entschlossen ist, dass ich mich in Frankfurt nicht verlaufe, will mich nach Sukkot dorthin begleiten.
Sie arbeitet bei ihrem Vater im Büro und hat mir erzählt, er sei ein sehr strenger Arbeitgeber, hat das wohl aber nicht ganz ernst gemeint. Das verrieten mir ihre schönen grünen Augen, aus denen immer Funken sprühen, wenn sie von ihrem Vater spricht. (Immerhin hat sie jahrelang nicht gewusst, ob er überlebt hat, und das muss ja eine ungewöhnliche Bindung schaffen.) Für Offenbach hat ihr dieser ungewöhnliche Vater jedenfalls sofort freigegeben. Er sagt, das wäre kein Privatvergnügen, sondern ein »dienstlicher Auftrag«. Soviel ich mitbekommen habe, ist man zwischen Frankfurt und Offenbach ziemlich lange unterwegs, aber es wird allgemein als ein Riesenglück bezeichnet, dass der Trambahnverkehr zwischen den beiden Städten überhaupt wieder aufgenommen werden konnte. Mein Gott, wenn mir einer vor einem halben Jahr gesagt hätte, ich würde mich für die Bahnverbindung zwischen Frankfurt und Offenbach interessieren, ich hätte ihn in die nächstbeste Zwangsjacke gesteckt. Wie sich doch der Blickwinkel des Lebens verändert, sobald man von etwas betroffen ist. Ich hatte total vergessen, dass Offenbach auch am Main liegt.
Fritz hat seine Kanzlei in der Biebergasse, in der er schon vor der Löschung durch die Nazis praktiziert hat. Vielleicht erinnert Ihr Euch, dass die Biebergasse ganz in der Nähe vom »Café Bauer« in der Schillerstraße ist, wo Großvater immer hinging, weil es dort besonders gutes Rührei gab und eine riesige Menge Zeitungen. Sogar jüdische und zionistische Blätter konnte man im Bauer kriegen, wie mir Erwin erzählte. Er scheint auch mächtig viel Zeit im Bauer verbracht zu haben. Seine ganze Jugend, sagt seine Schwester Clara. Das Bauer gibt es natürlich nicht mehr, in Frankfurt liegen heute nirgends zionistische Zeitungen herum, und Rührei im Café isst wahrscheinlich auch niemand mehr. Das dürfte zu teuer sein. Die Leute verbringen mindestens die Hälfte ihres Lebens damit, über die hohen Preise zu schimpfen und zu fragen, wer sich das leisten soll. Unter uns gesagt, dafür, dass Deutschland den Krieg verloren hat, leisten sie sich eine ganze Menge. Mich überrascht die Anzahl der Autos. Die Träume der Leute sind entsprechend. Auch Fritz hat mir gestanden, dass er davon träumt, noch einmal in seinem Leben hinter einem Lenkrad zu sitzen. Er denkt an einen Opel.
Obwohl die Schillerstraße noch recht mitgenommen aussieht, habe ich sie auf den ersten Blick wiedererkannt. Bei meinem zweiten Besuch habe ich dort sogar einen jüdischern Arzt aufgetan – Dr. Goldschmidt. Er hat dank seiner nichtjüdischen Frau und der christlich erzogenen Töchter die Nazizeit überlebt, konnte in der Stadt bleiben, durfte aber nur jüdische Patienten behandeln (von denen es ja täglich immer weniger gab). Betsy hat mir erzählt, dass es auf dem jüdischen Friedhof in der Eckenheimer Landstraße eine Menge Gräber von
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