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Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Neubeginn in der Rothschildallee - Roman

Titel: Neubeginn in der Rothschildallee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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erlebt, worüber wir alle nie werden sprechen können, doch sie ist so vital und entschlossen zu leben, dass ich mich bei jedem Besuch in ihrem Haus – es werden immer mehr – meiner Kleingläubigkeit schäme. Nicht nur, dass Betsy die tragende Säule der Familie ist, sie interessiert sich für alles, was in der Welt geschieht und ist erstaunlich belesen. Es ist hauptsächlich ihr zu verdanken, dass ich bei jedem Besuch deutsche Worte und Redewendungen wiederfinde – und gebrauche! –, die vollkommen aus meinem Gedächtnis gerutscht waren. Literatur und Kunst eingeschlossen. Durch Betsy habe ich Heine, Feuchtwanger, Bert Brecht, meinen alten Schwarm Gottfried Benn und meine alte Liebe Erich Kästner wiedergefunden, aber auch einen vielversprechenden Nachwuchsautor namens Heinrich Böll entdeckt, der den ganzen Krieg lang Soldat war und mich sowohl mit seiner Erzählung »Der Zug war pünktlich« als auch mit seiner Gesinnung sehr ergriffen hat. Ebenso wie der Schriftsteller Wolfgang Borchert, der mit seinem Stück »Draußen vor der Tür« ganz Deutschland wachgerüttelt hat und leider schon im Alter von sechsundzwanzig Jahren gestorben ist. Sein Stück ist an fast jeder deutschen Bühne gelaufen. Natürlich hier im Westen. Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass Deutschland jetzt aus zwei Teilen besteht, West und Ost. Vom Osten weiß ich nichts, außer dass man dort das Heil der Welt im Kommunismus sucht, die Leute Sächsisch sprechen, was unseren Deutschlehrer Kappelmann ja immer zu humoristischen Einlagen animierte, und dass es den Menschen in Ostdeutschland wirtschaftlich wesentlich schlechter geht als in Westdeutschland. Zum Thema Kultur nur noch dies, liebe Mutter: Gerade gestern hat mir Betsy erzählt, dass Dein alter Schwarm nach fünfzehn Jahren zum ersten Mal zu einem Gastspiel nach Deutschland kommt. Ich rede von der Schauspielerin Elisabeth Bergner, die laut Foto immer noch so zierlich ist und so sensibel wirkt wie in der Blüte ihrer Jugend. Sie ist nach England emigriert und später nach New York gegangen.
    Lieber Vater, ich sehe, wie Du den Kopf schüttelst, und ich höre Dich schimpfen: Unser Junge ist in Frankfurt total meschugge geworden. Haben wir das viele Geld für die teure Schiffskarte aufgebracht, damit er ein Schöngeist wird und in die Wolken guckt? Hat der Kerl denn vergessen, was er in Frankfurt zu tun hat? Will er nur der Vergangenheit nachweinen und brotlose Betrachtungen anstellen? Nein, Vater, dreimal nein. Ich habe absolut nichts von dem vergessen, was ich mir zu merken habe. Mir ist es sogar rechtzeitig gelungen, unsere Sache nicht dem Anwalt anzuvertrauen, dessen Adresse wir von dem verständnisvollen Mann bei der deutschen Botschaft erfahren haben. Ich habe nämlich Dr. Feuereisen mit der Wahrnehmung unserer Ansprüche beauftragt. Als Jude hat er bestimmt eine ganz andere Einstellung zu dem Thema Entschädigung als ein nichtjüdischer Anwalt. Bei dem hätten wir ja bestimmt die ganze Zeit gerätselt, was er gestern gemacht hat und was er heute denkt. Feuereisen – übrigens duzen wir uns inzwischen, er heißt Fritz – hat vor, sich in seiner Praxis auf Entschädigungsverfahren zu spezialisieren, sobald die sogenannte Wiedergutmachung richtig angelaufen ist. Möge es bald sein, sonst sterben die Menschen, die alles verloren haben außer einem Leben, mit dem sie nicht mehr zurechtkommen, darüber hinweg, und der deutsche Staat lacht sich ins Fäustchen. Leider kann ich nicht beurteilen, inwiefern das neue Deutschland wirklich neu ist. Fritz sagt, er auch nicht.
    Er macht mir Hoffnung für unser Haus im Röderbergweg und ebenso für unsere Lederwarenfabrik in Offenbach. Er sagt, es wird von großem Vorteil sein, dass wir beweisen können, wie sehr und von wem wir vor unserer Auswanderung unter Druck gesetzt worden sind. Er will auch den Schaden anmelden, den ich in »meinem beruflichen Fortkommen« (so lautet hier die offizielle juristische Bezeichnung für die verpfuschte Laufbahn eines hoffnungsvollen deutschen Knaben) erlitten habe. Schließlich ist es ja, wie wir gesehen haben, ein gewaltiger wirtschaftlicher Schaden, wenn jemand, der seinen Eltern bis zum Abitur auf der Tasche gelegen hat, damit er Germanistik und Geschichte studieren kann, als Gehilfe eines Schusters in Montevideo endet, der ihm ein Jahr lang nur Kost und einen verwanzten Schlafplatz in seiner Werkstatt zukommen lässt. Da ist es wiederum juristisch von Vorteil, dass ich bereits auf der Uni war, als

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