Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
Bilder zu malen, stellte sich David vor, das Tintenfass wäre verzaubert, könnte reden und würde ihm als Einzigem auf der Welt erzählen, wohin der japanische Frachter »Raifuku Maru« im Jahr 1924 verschwunden war. Sein angeblich letzter Funkspruch – »Gefahr wie ein Dolch, kommt schnell, wir können nicht mehr fliehen« –, von dem er im »Jahrbuch der Pfadfinder« gelesen hatte, beschäftigte David immer wieder.
Die kleine Tintenflasche glänzte in der fast weißen Sonne. Wann immer David auf seine Augenlider drückte, schien ihm die Tinte so durchsichtig wie das Wasser in dem kleinen Teich mit den Seerosen. Der silberfarbene Flaschenverschluss glänzte wie der erste Stern am Abendhimmel. Der Vergleich kam David nicht zufällig – der erste Stern beziehungsweise die ersten drei bedeuteten ihm viel, vor allem am Samstagabend, wenn sie das Ende des Sabbat verkündeten und David wieder schreiben, Fußball spielen, sein Taschenmesser benutzen durfte und an Dinge denken konnte, die weder mit Gott noch mit der Pflicht der Menschen zu tun hatten, seine Gebote zu beachten.
David starrte so lange in die flammenden Flamboyantblüten, bis sie sich in einen roten Teppich verwandelten. »Sergeant Zuckerman beginnt soeben mit seinen Aufgaben, Captain«, sagte er. Er salutierte mit dem Pfadfindergruß, doch statt dass er das erste Wort schrieb, was ja auch dem besten Aufsatzschreiber in der Klasse Schwierigkeiten machte, winkte David einem Bienenfresser zu. Der Vogel hatte Kopffedern, die so weiß waren wie Mehl, seine schönen grünen Flügel sahen in der Sonne aus, als wären sie aus Metall. Der Bienenfresser flog auf einen hohen Kaktus mit einer großen gelben Blüte zu. Es war Davids Mutter, die auf sein Winken reagierte.
Die Mutter, in einem Kleid, das die gleiche grüne Farbe hatte wie die Flügel des Bienenfressers, und mit einem weißen Stirnband, das ihr schwarzes Haar noch dunkler wirken ließ, als es war, saß unter dem Flamboyant an einem Glastischchen mit vergoldeten Beinen. Weil sie an ihrem Bleistift kaute wie ihr Sohn an seinem Federhalter, wusste der, dass sie dabei war, das Rätsel in der Sonntagszeitung zu lösen. Er fragte sich, wie ihr das ohne seine Hilfe gelingen sollte. Seine Mutter konnte fließend Deutsch, hatte auf der Schule Französisch und Latein gelernt, doch mit der englischen Orthografie, die ja gerade in einem Kreuzworträtsel so wichtig war wie das, was der Mensch wusste, tat sie sich schwer.
Auf einer Decke saß die neue Nanny. Ihr Turban sah aus wie ein kleiner lila Turm, auf ihrem sonnengelben Kleid blühte roter Mohn und flogen Schmetterlinge. Die Nanny war neu und so darauf aus, einen guten Eindruck bei ihren Arbeitgebern zu machen, die als umgänglich und großzügig galten, dass sie sämtliche Zuckermankinder »Darling« oder »Sweetie« nannte – zu Davids Empörung auch ihn, dem bereits beim kleinsten Vergehen von seinen Eltern vorgehalten wurde, er wäre ein Mann, obgleich es noch fast ein Jahr bis zu seiner Bar-Mizwa war. Die Nanny spielte mit der kleinen Victoria. Alle nannten sie Baby, sie selbst konnte nur Mama, Dada und Aby sagen, was den, der als mittlerer der Brüder immer mehr Mühe hatte als die anderen, Beachtung zu finden, pfauenstolz machte. Baby war siebzehn Monate alt, sie hatte die gleichen schwarzen Haare wie die Mutter und auch deren große blaue Augen. Mindestens einmal pro Tag war David froh, dass er zu alt war, seiner kleinen Schwester die Aufmerksamkeit zu neiden, die sie überall erregte. Bei Rachel, die seiner Meinung nach mindestens so schön wie Baby war und die in der Synagoge und bei Kinderfesten von den Freundinnen seiner Mutter so lange gedrückt und abgeküsst wurde, bis sie zu brüllen anfing, als würde man sie grillen, war er noch nicht so weit gewesen, seine Eifersucht nicht zu zeigen.
Die kleine Victoria hatte ihren Namen von Davids Tante bekommen, die in Deutschland in einem Konzentrationslager umgekommen war. Seine Geschwister durften das noch nicht wissen. Sie hatten auch noch nie gemerkt, dass ihre Mutter Tante Victorias Namen nicht aussprechen konnte, ohne dass sie Tränen in den Augen hatte. Die Tante war zusammen mit ihrem Sohn und ihrem Vater, der ja der Großvater der kleinen Zuckermans war und für den Davids Mutter zu Jom Kippur immer das Totengebet sprach, aus Frankfurt deportiert worden.
Der neunjährige Aby und Ralfi waren ja noch Kinder – David war sich da absolut mit seinen Eltern einig. Rachel war viereinhalb; sie
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