Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
kannte noch nicht einmal das Wort Tod, obgleich einer ihrer geliebten Hasen erst vor drei Wochen gestorben war und sie furchtbar geweint hatte. Sein Vater hatte der Mutter verboten, Rachel gleich einen neuen Hasen zu kaufen. »Wenn mir was passiert«, hatte er gefragt und so wütend ausgesehen, als hätte David seinen Füllfederhalter benutzt, »willst du ihr dann sofort einen neuen Vater kaufen?«
Das Wort »Deportation« kannte David sehr viel länger, als seine Eltern ahnten. Zum ersten Mal gehört hatte er es bei Simon Sharp. Der war ein halbes Jahr älter, saß neben ihm in der Religionsschule und hatte zwei ältere Brüder, die beide schon studierten. Vor allem war Vater Sharp nicht wie Leon Zuckerman, der sich trotz seines großen Arbeitspensums im Hotel und seiner zwei Ehrenämter bei der Gemeinde die Zeit nahm, sich mit dem zu beschäftigen, was seine Kinder wissen durften und was nicht. »Ich finde es nicht immer gut, wie streng du über manche Dinge denkst«, hatte David diesem bemerkenswerten Vater anvertraut. »Aber wenn ich mal Kinder habe, mache ich es genauso.« Der hatte nachts um halb eins nicht nur die Taschenlampe konfisziert, mit der David gelesen hatte, sondern auch ein in Zeitungspapier eingeschlagenes Buch mit Kurzgeschichten von einem Autor namens Ernest Hemingway. Das Buch wanderte gerade in Davids Klasse von Hand zu Hand. Zwar verstand keiner der Jungen auch nur im Entferntesten, worum es dem Schriftsteller ging, doch die Erzählungen waren so gespickt mit ordinären Ausdrücken und rüder Männerfantasie, dass die Jungen selbst bei ihren älteren Brüdern Eindruck machten, wenn sie ihnen eine literarische Kostprobe zukommen ließen.
Immer wenn der Flamboyant so berauschend blühte, wie er das im Januar 1950 tat, der weder zu heiß noch zu trocken war, erinnerte sich David, den nur noch zwei Monate und drei Tage von seinem zwölften Geburtstag trennten, wie romantisch die religiösen Vorstellungen seiner Kindertage gewesen waren. Lange Zeit hatte er sich vorgestellt, Gott würde, wenn er auf der Erde zu tun hätte, im Flamboyant der Familie Zuckerman Quartier nehmen, sein himmlisches Brot mit David teilen und Davids Vater dazu überreden, ganz allein mit seinem ältesten Sohn einen Badeurlaub in Durban zu verbringen.
David wusste damals nicht, wie kindisch und unvorsichtig es war, über seine geheimsten Wünsche und die Vorstellungen, die er von Gott und seiner Güte hatte, mit den Eltern zu sprechen. Ausgerechnet seinem Vater, der ja so viel frommer war als die Mutter und der von seinen Söhnen allzeit Gehorsamkeit und die Einhaltung von Gottes Geboten erwartete, verriet der kleine David, dass er Gott auf den schönsten Baum von Kapstadt aufmerksam gemacht hatte. Sein Vater war wütend wie ein angeschossener Elefant gewesen. Er hatte seinen Sohn vor seinen kleinen Brüdern und der Nanny gemaßregelt und so barsch geschnauzt: »Du sollst dir kein Bildnis machen«, dass David in Tränen ausgebrochen war.
Längst gelang es David zu lächeln, wenn er an den väterlichen Zorn und seinen Kinderkummer von damals dachte. Er genoss auch den Gedanken, dass er an manchen Tagen den Flamboyant noch immer als eine heilige Stätte ansah. Es bekümmerte ihn nicht, dass er immer noch die Angewohnheit hatte, sich Bildnisse zu machen. Sam Oppenheim, der erste Erwachsene, der ihn ernst nahm, hatte für einen neuen Horizont gesorgt.
Wenn die beiden allein waren, durfte David den schnauzbärtigen jungen Mann mit seinem Vornamen anreden. Sam war fünfundzwanzig Jahre alt, Lehrer in der Religionsschule und hatte in vielen Dingen mehr Verständnis für seine Schüler als die eigenen Eltern, die gerade in kritischen Situationen nicht realisieren wollten, dass ihre frühentwickelten Töchter und Söhne keine Kinder mehr waren. An dem Tag, als David erfuhr, er dürfe auch für seine Bar-Mizwa bei Sam Oppenheim lernen und nicht, wie es viele Jungen mussten, bei Rabbi Long, der den Ruf hatte, schroff, ungeduldig und menschenfeindlich zu sein, schrieb er in sein Tagebuch, er würde nie wieder in seinem Leben so glücklich sein.
Sam war auf einer jüdischen Schule in London erzogen worden und hatte auch in England studiert, war jedoch frohen Herzens und mit dem nächsten Schiff in seine Geburtsstadt Kapstadt zurückgekehrt, als ihm die dortige jüdische Gemeinde eine Stellung anbot. Er war ein ausgezeichneter Schwimmer, ein begeisterter Cricketspieler und als Lehrer ein Mann von Maß, der seine Religiosität nicht
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