Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
betonte. Sam konnte selbst Kinder, die sich anfangs mit dem Religionsunterricht schwertaten, weil er für jüdische Kinder am Sonntag stattfand, für das Judentum und seine Geschichte erwärmen. Die Klugen begeisterte Lehrer Sam mit seinem Witz, seinem breiten Allgemeinwissen und den ausgefallenen Vergleichen, die von einem enormen Sprachbewusstsein zeugten. David erklärte er, dass auch er Südafrikas Bäume als einen besonders gelungenen Teil von Gottes Schöpfung empfinde. »Ich stelle mir manchmal sogar vor«, vertraute er seinem verblüfften Schüler an, »Moses hat nicht einen Busch brennen, sondern einen Flamboyant blühen sehen, als Gott mit ihm sprach und sagte ›Mach dich auf ins Gelobte Land‹.«
»In Ägypten? Ich habe gar nicht gewusst, dass es dort überhaupt solche Bäume wie bei uns gibt.«
»Wenn Gott will, lässt er sogar Rosen in der Wüste blühen und Wasser aus dem Felsen stürzen. Von dem Wasser, das zu Wein wurde, wollen wir lieber nicht reden. Die Geschichte gehört unseren christlichen Brüdern. Ich vermute, die Juden hätten sich als Wunder etwas Dauerhafteres als Kopfschmerzen am nächsten Morgen gewünscht. Zum Beispiel einen eigenen Staat. Na, den haben sie ja auch bekommen, wenn’s auch ziemlich lange gedauert hat für meinen Geschmack.«
»Für meinen auch«, lachte David mit.
Es war gut, von Sam wie ein Mann behandelt zu werden, mit dem es sich zu reden lohnte. Es war auch gut, machte sich David klar, während seine Augen aus dem Sonnenlicht einen Konfettiregen von durchsichtigen Farbkreisen zauberten, sich viel Zeit mit einem Aufsatz zu lassen. Immerhin hatte er bereits die ganze Woche an diesen Aufsatz gedacht. Am Anfang war Denken sogar besser als Tun.
»Kommst du voran?«, rief seine Mutter. »Du darfst dich beim Einstieg nicht zu sehr mit Beschreibungen aufhalten, die zu nichts führen. Sonst ufert deine Arbeit aus, und du hast nicht mehr genug Zeit für den Schluss. Das ist mir als Schülerin immer wieder passiert. Hinterher habe ich mich schrecklich geärgert, dass ich mich selbst um eine gute Note gebracht habe.«
David tippte sich, was seine Mutter auf die Entfernung ja nicht würde sehen können, mit seinem Zeigefinger an die Stirn. »Shut up!«, murmelte er, dann fluchte er auch noch »bullshit« und »fucking hell«. Er war beschämt, als er sich reden hörte, starrte betreten auf den Boden und hätte am liebsten die Hände vors Gesicht gehalten. Wie Rachel, wenn sie sich unsichtbar machen wollte. In den meisten Fällen gelang es David nämlich durchaus, sich zu vergegenwärtigen, dass seine Mutter mit ihren fünfunddreißig Jahren nicht mehr jung war und dass sie ein Anrecht auf Verständnis und Rücksicht von ihren Kindern hatte. Es war nicht richtig, ihr die seltsamen Ansichten und ihre Redefreudigkeit übelzunehmen. Wahrscheinlich hatten ihre Neugierde und ihre Art, sich zu sehr in das Leben ihrer Kinder einzumischen, mit ihrer deutschen Abstammung zu tun. David hatte mal gelesen, alle Deutschen wären neugierig und würden Fragen stellen, auf die kein Engländer käme, und sie würden einander Dinge erzählen, über die keiner in England je sprach.
Trotz solcher Toleranz irritierte es David, wie wenig seine Mutter in der Lage war, sich vorzustellen, worauf es in der Schule ankam, wenn ein Junge über das Stadium hinaus war, in dem sich der achtjährige Ralfi gerade befand. Ralfi, das Wunderkind, wurde sogar von seiner Lehrerin vor der ganzen Klasse gelobt, wenn er grüne Kühe, runde Bananen und einen Omnibus mit drei Rädern malte. Und sein Vater feierte seinen jüngsten Sohn als das erste Genie seit Isaac Newton, weil er sich nicht weismachen ließ, dass drei und drei sieben war. »Nimm dich nur in Acht«, hatte David ihm erst vor drei Wochen gedroht, als sich sein Brüderchen wie ein balzender Pfau aufgeführt hatte. »Du tust gut daran, dir zu überlegen, warum Josefs Brüder ihn nach Ägypten verkauft haben.«
»Hauptsache, du entschließt dich, endlich mal anzufangen«, rief Davids Mutter, »und hörst auf, Löcher in die Luft zu starren. Wenn du so weitermachst, mein Sohn, ist Baby ja so weit, dass sie deinen Aufsatz schreiben kann.«
»Ich starre keine Löcher in die Luft. Ich habe mir unsere Kronenkraniche genau angesehen. Nächste Woche muss ich im Naturkundeunterricht nämlich einen Vortrag über Kronenkraniche halten. Da kann ich auch nicht im letzten Moment damit beginnen, mich mit ihnen zu beschäftigen.«
Als ob ein Aufsatz in der achten
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