Neubeginn in der Rothschildallee - Roman
wir einfach so, als wäre nichts geschehen.«
10
David Zuckerman schreibt
einen Aufsatz und seine Mutter
einen Brief
Kapstadt, Januar 1950
David Zuckerman dachte an seine Großmutter. Sonst schrieb er ihr immer am zweiten Sonntag im Monat – nicht, weil es seine Eltern so wollten, sondern weil er das Bedürfnis dazu hatte. Entweder übersetzte ihm seine Mutter die wunderbar langen Antwortbriefe der Großmutter, oder, was ihm noch mehr Freude machte, wurden sie bereits in Frankfurt von Onkel Erwin, Tante Clara oder seiner Cousine Claudette übersetzt. Die konnten sowohl Englisch als auch Deutsch. »Andere Jungen«, hatte David einmal seinen Eltern erklärt, als sie seinen Fleiß und seine Ausdauer lobten, »müssen sich mit Brieffreunden zufriedengeben und schreiben dann so dusselige Dinge wie ›Ich heiße David, habe vier Geschwister, sammle Briefmarken und wünsche mir einen zahmen Klippschliefer‹. Ich stehe mit meiner Großmutter in Kontakt. Die interessiert sich wirklich für mich. Ihr schreibe ich nicht, weil es die Note verbessert, einen Brieffreund zu haben, sondern weil ich sie liebe. Und sie liebt mich.«
Dass David ausgerechnet seinen ersten Brief im Jahr 1950 um einen Sonntag verschieben musste, wurmte ihn, doch sein Jahresaufsatz war fällig. Das Thema, von dem neuen Lehrer gestellt, dem David nicht traute, weil er ihn für seinen Geschmack zu oft »Goliath« nannte und dabei auf eine seltsame Art grinste, hatte in der Familie bereits für viel Diskussion gesorgt. »Ein Land, das ich kennenlernen möchte und warum« hatte Mr. Ginger an die Tafel geschrieben. »Ich würde euch empfehlen«, hatte er seinen Schülern geraten, »euch nicht alle für Norwegen oder den Nordpol zu entscheiden. Das macht es für mich so verdammt langweilig beim Korrigieren. Zu viel Schnee und Eis.«
David, der keinen Moment darüber hatte nachdenken müssen, wie er Mr. Ginger am besten Langeweile ersparte, saß im spärlichen Schatten einer noch jungen Dornakazie. Der kleine runde Tisch vor ihm war so neu, dass er noch nach frischem Holz roch. In den teuren weißen Stuhl, der erst seit zwei Wochen in den Garten verbannt war, hatte Davids jüngster Bruder Ralfi einen Löwenkopf geschnitzt. Nach Davids Meinung war der Löwenkopf ein Meisterwerk für einen Jungen von acht Jahren, doch Ralfi hatte sein Talent drei Tage lang seinen Nachtisch gekostet, und bis Pessach war er sein schönes neues Taschenmesser los.
Auf dem Tisch stand ein großer Glaskrug mit der Saftmischung aus Ananas und Orangen, für die David schwärmte, daneben war ein hellblauer Teller mit zwei Stück Schokoladenkuchen. David hatte sie der Köchin abgeschwatzt, obgleich die den Auftrag hatte, den Kindern zwischen den Mahlzeiten nichts zu geben. Um seine Mutter nicht zu beunruhigen, hatte David, der als der ehrlichste, fürsorglichste und rücksichtsvollste der drei Brüder galt, die zwei Mittelseiten seines Aufsatzheftes herausgetrennt und über den Kuchen gelegt. Obwohl der Kuchen dem taktvollen Sohn so wunderbar schmeckte, wie es eben nur verbotene Früchte tun, teilte er ihn mit zwei zutraulichen, außergewöhnlich farbenprächtigen Glanzstaren.
Wäre es mit seinem Aufsatz nicht so eilig gewesen, hätte er sie für seine Jahresarbeit in Kunst in Ölfarben gemalt. Flogen die Vögel mit ihrer Krümelbeute in den Maulbeerbaum, leuchteten sie in einem Blau, das das Auge blendete. David sah ihnen zu lange nach und konnte dann seine Fantasie nicht mehr daran hindern, an seinem Arbeitseifer zu zehren. Er malte sich aus, die Glanzstare wären mit in der Arche gewesen und hätten die Taube eskortiert, als sie Noah ausschickte, um nach der Sintflut die Welt zu erkunden. Die Kapstädter Glanzstare gerieten wegen eines Kuchenbrockens in Streit, sie schlugen mit den Flügeln und setzten auch den Schnabel ein, doch sie einigten sich schnell. David tauchte weiter aus der Wirklichkeit ab. Er malte sich eine Welt aus, in der es keine Kriege gab und weder Ungerechtigkeit noch Armut. Es war sogar verboten, über andere Menschen schlecht zu denken.
»Sorry, Sir«, murmelte der Weltverbesserer, der seit einiger Zeit dem Reiz und der Heilkraft von Selbstgesprächen verfallen war, »Master David Zuckerman meldet sich zurück.«
Zufrieden betrachtete er den makellosen roten Holzgriff seines Federhalters, auch die Schreibfeder war fast neu. Obwohl er wusste, dass ein Junge in seinem Alter selbst sonntags nicht mehr das Recht hatte, bei Tag zu träumen und mit seiner Fantasie
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