Neue Schuhe zum Dessert
und ihr Gesicht gab Zeugnis davon. Sie machte ihre Arbeit sehr gut (sagte sie) und verdiente mehr an Provision als die anderen Verkäuferinnen. »Ich vertraue Sie, ich zeige Sie.«
Sie ging aus dem Zimmer und kam mit einer rot karierten Keksdose wieder. Sie klappte den Deckel hoch und zeigte mir den Inhalt: Die Dose war voller Geldscheine. Fünfziger und Zwanziger und Zehner – die meisten Scheine waren Fünfziger.
»Provision. Ich zähle jeden Abend. Ich kann nicht schlafen sonst.«
Ich war entsetzt. Es war gefährlich, so viel Bargeld im Haus zu haben. »Sie sollten das in die Bank einzahlen.«
»Banke!« Sie vertraute ihnen nicht. »Sehen Sie!« Sie nahm ein Buch aus dem Regal und blätterte es auf, und zwischen den Seiten lagen Zwanziger. »Gogol. Dostojewski.« Noch mehr Geld. »Tolstoj.« Und noch mehr.
»Haben Sie die Bücher auch gelesen?« Jetzt war mir nicht mehr schlecht wegen des Geldes, stattdessen war ich beeindruckt von ihren literarischen Kenntnissen. »Oder sind die nur für das Geld da?«
»Ich habe alle gelesen. Lieben Sie die russische Literatur?«, fragte sie listig.
»Ehm, ja.« Ich kannte kaum welche, aber ich wollte höflich sein.
Sie lächelte. »Die Engländer. Sie sehen Film von Lolita , und sie denken, sie kennen russische Literatur. Jetzt ist Zeit zu gehen. Gleich ist Eastenders .«
»Mögen Sie Eastenders? «
»Ich liebe sehr. Sie sind so unglicklich, so wie das Läben. Kommen Sie wieder. Immer. Wenn ich keine Zeit habe, sage ich.«
Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich geglaubt, dass sie es freundlich meinte.
Der Arzt behielt Recht, und ich hatte keine Fehlgeburt. Aber ein paar Tage später stürzte ich in eine schreckliche Depression. Immer mehr verdunkelte sich mein Blickfeld, bis ich nur noch das Furchtbare des menschlichen Lebens sah, die menschlichen Makel. Alles, was wir berühren, verderben wir. Warum hatte ich mich in Anton verliebt? Warum hatte Gemma sich in ihn verliebt? Warum können wir nicht die lieben, die für uns die Richtigen sind? Woran liegt es nur, dass wir uns immer wieder in Situationen begeben, in denen wir nicht bestehen können und uns und anderen wehtun? Warum haben wir Gefühle, die wir nicht kontrollieren können? Die genau das Gegenteil von dem bewirken, was wir wirklich wollen. Wir sind wandelnde Konflikte, innere Zerrissenheit auf Beinen, und wenn wir Autos wären, würden wir wegen Mängel an der Konstruktion zurückgerufen.
Warum haben wir eine so begrenzte Kapazität für das Schöne und so unendlich viel Raum für Schmerz?
Wir sind ein Witz des Kosmos, fand ich. Ein kosmisches Experiment, das fehlgeschlagen war.
Mir war es verhasst, lebendig zu sein. Die Aussicht auf den Tod allein machte mein Leben lebenswert. Aber ich trug ein Kind unter meinem Herzen, ich musste weitermachen.
Es war das Trauma nach dem Überfall, das diese Hoffnungslosigkeit in mir hervorrief, sagte Anton, ich müsste wieder zum Arzt. Ich widersprach: Es war meine eigene Schlechtigkeit, die mich in diesen Zustand gebracht hatte.
Anton wollte davon nichts wissen. Er sagte immer wieder: »Du bist kein schlechter Mensch. Ich habe Gemma nicht geliebt, ich liebe dich.«
Das war es ja gerade. Hätte er nicht Gemma lieben können? Warum musste es so kompliziert sein?
Anton konnte mir nicht zustimmen. Hätte er es getan, dann wäre das unser sicheres Ende gewesen. Ich schaffte es, die Arbeit an dem Spinathandzettel zu beenden, aber als die Agentur mir weitere Aufträge anbot, nahm ich sie nicht an.
Ich hatte fast niemanden, mit dem ich sprechen konnte. Seit Anton und ich den furchtbaren Schritt gemacht hatten und nach Dublin gefahren waren, wo wir Gemma alles erzählt hatten, brachen alle Irinnen, die ich in London kannte – Gemmas und meine gemeinsamen Freunde, die Mick-Mädels – den Kontakt abrupt ab. Die einzige Freundin, die ich noch aus der Zeit vor Gemma hatte, war meine alte Schulfreundin Nicky. Aber Nicky hatte ihre eigenen Probleme, denn sie wollte gern ein Kind, aber Simon war nicht nur zu kurz geraten, sondern auch unfähig, sie zu schwängern.
Anton war den ganzen Tag mit Mikey unterwegs. Sie führten Fernsehleute zum Lunch aus und bettelten sie um Geld an, sie führten Literaturagenten aus und bettelten sie um billige Drehbücher an, und sie führten Theateragenten aus und bettelten um Schauspieler, die in den billigen Produktionen, für die sie weder die Rechte noch die Finanzierung hatten, die Rollen übernehmen sollten. Ich kriegte
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