Neue Zeit und Welt
kneifen.
Die Sphinx schaute nur zu und gluckste leise.
Joshua bebte vor Zorn. Den Anblick dieser grotesken Kreaturen, die diese seltene Schönheit schändeten, diese Wiederverkörperung seiner verlorenen Liebe, ertrug er nicht. Er stürzte nach vorn.
Eineinhalb Meter davon entfernt, sprang er zu der hängenden Seenixe hinauf. Er klammerte sich an sie, und sein Schwung drehte den Baum über das Schiffsdeck und dann hinaus über das Wasser im Hafen. Die Vampire und die Sphinx blieben fassungslos vor Überraschung auf dem Kai zurück, während der Affe am Netz kaum begriff, was vorging. Josh hieb dem Geweihträger eins auf den Kopf, worauf er ins Wasser stürzte.
Einen Augenblick lang umklammerte Josh die Seenixe durch das Netz. Sie blickten einander tief in die Augen. Josh sah mit vorübergehender Klarheit, dass das nicht Dicey war – nur ein schönes Wesen, von einem Schrecknis des Lebens überfallen und gepackt. Sie blickte in seine Augen und sah etwas Ähnliches.
Er zog das Messer aus dem Gürtel und zerschnitt das Netz so weit, dass die Seenixe hinausschlüpfen konnte. Sie tauchte ins Hafenbecken und verschwand.
In der nächsten Sekunde waren die anderen wieder wach. Piraten an Deck drehten den Baum über den Pier zurück, und die Vampire zogen Josh aus dem Netz, hinunter auf den Boden. Sie hätten ihn an Ort und Stelle bewusstlos geschlagen, aber das war nicht nötig – er hatte wieder einen Anfall. Sie wickelten seinen zuckenden Körper in Segeltuch, banden den Sack oben zu und warfen ihn sorglos in den Frachtraum des Schiffes.
Paula saß in der Bar und beobachtete die Gestalt des jungen Mannes, der auf dem Pier immer wieder einnickte. Er kam ihr bekannt vor. Sie war sicher, dass sie ihn von irgendwoher kannte; wenn sie sich nur hätte erinnern können, woher. Sie beobachtete ihn durch das Fenster über die Kais hinweg, während sie ihr Bier trank.
Sie war eine robuste, drahtige Frau – Mensch – Schreiberin; hübsch, aber ohne Weichheit. Sie saß allein. Sie beobachtete, dass der junge Mann auf dem Pier Selbstgespräche führte. Sie bestellte noch ein Bier. Wo habe ich ihn nur schon gesehen? fragte sie sich. Das musste Jahre her sein. Sie konnte sich Menschengesichter aber gut merken; sie reihte alle, die ihr je begegnet waren, wie Blumen vor sich auf. Es kam nur darauf an, die eine Blume wieder zu finden. Sie starrte auf den Verschrobenen am Pier und dachte: Nachtblüten, in Furcht geschlossen, die niemals Mondstrahlen oder Schattenmenschen sehen.
Poesie war die höchste Form der Schreiberei, was Paula anging. Sie hatte alle alten Gedichtbücher gelesen, die sie hatte finden können – sie waren ihre engsten Freunde. Gedichte bargen den höchsten Sinn in den wenigsten Worten von allen Schriften. Jedes Wort enthielt somit die größte Macht – und darum ging es bei der Religion: um die Macht des geschriebenen Wortes. Die meisten anderen Schreiber vertraten freilich die Meinung, poetische Wörter seien zu vieldeutig, ihr Informationswert sei vermindert, ihre Macht daher geschwunden – aber Paula gehörte nicht zur Mehrheit der Schreiber.
Schreiber neigten in der Regel dazu, eine Clique zu bilden, die militanten Schreiber der unter dem Namen ›Bucherei‹ bestehenden Geheimgesellschaft noch mehr als die anderen; aber obwohl Paula zu ihnen gehörte, galt sie bei den anderen als Außenseiterin. Klug, tüchtig, geachtet, sogar beliebt – nichtsdestoweniger mied sie die Gesellschaft anderer und zog dieser ihre eigene oder die ihrer Bücher vor. Sie verabscheute es besonders, sich in hitzige theologische Streitigkeiten über die Macht der Poesie als Wortform im Gegensatz zu Roman oder Essay einzulassen – unter den Klerikern der Sekte ein beliebter Streitgegenstand. Sie interessierte sich nur dafür, ihre Gedichte zu lesen, in Ruhe gelassen zu werden und in den Tierstädten nach Anzeichen für organisierte Feindseligkeiten gegen Menschen Ausschau zu halten.
Sie sah, dass der Mann am Pier aufstand und zu tanzen begann. Zunächst erschien ihr das lächerlich, sie schämte sich sogar, miterleben zu müssen, wie ein Angehöriger ihrer eigenen Rasse sich so deutlich zum Narren machte, allein auf dem Kai tanzend, mit einem Geist als Tanzpartner. Eine Schande, dass das die anderen Tiere sehen konnten.
Aber der Mann schien so hingegeben zu sein, im Inneren so verzückt, dass es Paula schwerfiel, ihm böse zu sein. Er tat schließlich nur das, was er tun wollte, weil es ihm gefiel, gleichgültig, was
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