Neues Glück für Gisela
zu verheiraten und die niemals ein normales, glückliches Familienleben kennen würde.
Eine gedämpfte, milde Stimme sprach hinter ihrem Rücken: „Ich habe wohl etwas berührt, das Ihnen weh tut? Vergeben Sie mir, ich wollte nicht…“
Dann nahm sich Gisela zusammen, drehte sich langsam um, und ihr Lächeln war nun beinahe echt: „Sie ließen mich nur an ein Schicksal denken, das ich aus nächster Nähe mitangesehen und das mir weh getan hat.“
„Ich verstehe.“
Ach Gott, da sagte er nun, daß er es verstehe! Nein, niemand konnte verstehen, wie schlimm ihr zumute war, niemand, der es nicht selbst erlebt hatte, konnte verstehen, was es bedeutet, jung zu sein, Frau zu sein, zu wissen, daß man wohl seinen Platz als Kamerad, Gattin und Geliebte einnehmen, aber niemals die Erfüllung der wichtigsten Aufgabe der Frau erreichen konnte. Sie faßte sich, ging zu ihrem Stuhl zurück und setzte sich.
„Sagen Sie mal, wie ist es eigentlich mit den Jungen, die Familie haben? Gibt es da feste Besuchstage, oder fahren sie manchmal nach Hause auf Besuch?“
„Ja, natürlich, das heißt, feste Besuchstage haben wir nicht, aber wenn Eltern und Großeltern die Kinder besuchen wollen, so sind sie selbstverständlich willkommen. Es kommt auch vor, daß die Jungen ihre Familien besuchen. Aber merkwürdigerweise sagen sie meist, daß sie sich hier wohler fühlen.“
„Das finde ich nicht so merkwürdig.“ Gisela lächelte ihm zu. „Und wie ist es mit Rolf? Hat er Familie?“
„Nein, Rolf ist allein. Er hat kein anderes Heim als dieses hier.“ Gisela schwieg eine Weile. Dann sagte sie langsam: „Ich würde so schrecklich gern etwas für Rolf tun. Etwas Ordentliches. Am liebsten würde ich ihn adoptieren, aber…“
„Aber…“
„Er hat es besser hier in dieser kleinen Gemeinschaft. Es würde unbarmherzig sein, ihn aus dieser Umwelt herauszureißen. Aber wenn die Zeit kommt, wo Rolf mit der Schule fertig ist, dann möchte ich gern etwas für ihn tun.“ Willi Stranden sah sie an.
„Sie ahnen nicht, wie froh Sie mich machen. Rolfs Geschick hat mich viel beschäftigt, verstehen Sie? Der Junge ist wirklich begabt und verdient einen guten Start im Leben.“
Gisela lächelte und reichte Willi die Hand.
„Es ist spät, ich muß schauen heimzukommen. Vielen, vielen Dank für alles! Und das mit Rolf können Sie als ein Versprechen betrachten. Er soll einen guten Start im Leben haben.“
Ein Kuß auf die Stirn
In der Nacht war Frost gekommen. Die bleiche Herbstsonne hatte ihn tagsüber wieder weggetaut, aber die Kälte hing in der Luft, der Winter war nicht mehr fern.
Gisela hatte lange warme Hosen an und eine Wollweste unter dem Anorak, als sie auf ihrem Rad nach Siebeneichen fuhr. Jetzt würden diese Radtouren bald aufhören. Aber das machte nichts aus, sie konnte die dreißig oder vierzig Minuten auch zu Fuß gehen oder den Bus nehmen. Rolf benützte immer den Bus zur Schule und zurück, zum Gehen wäre es für seinen lahmen Fuß zu weit gewesen.
In Giselas Kopf schwirrten die Gedanken im Kreise herum, während sie radelte. Der Weg führte ein gutes Stück am Fluß entlang, der sozusagen der Lebensnerv von Hoyfoss war. Er gab der kleinen Stadt ihre Existenzberechtigung. Es plätscherte grünlich-weiß da unten zwischen den Steinen. Weiter ging der Weg über einen Hügelkamm und dann einen steilen Abhang hinunter. Erst nach ein paar Kilometern bog ein Waldweg nach Siebeneichen ab.
Da konnte man mit dem Fahrrad durch, für einen Pferdekarren war der Weg auch breit genug. Aber wenn Gisela per Taxi kam, oder wenn die Lieferwagen vor Haus Siebeneichen anrollten, mußten sie schon auf der oberen, viel längeren Straße fahren.
Wie gut sie diesen Weg jetzt kannte! Mindestens ein paarmal in der Woche fuhr sie hierher, ohne erst eine Aufforderung abzuwarten. Damit war jetzt Schluß. Sie war ein lieber Gast auf Siebeneichen geworden, ein Stammgast, sie fühlte und sie wußte es. Das frohe Lächeln, mit dem sie empfangen wurde, die munteren Worte, die natürliche Freundlichkeit wärmten sie bis tief in die Seele.
Gisela war beinahe glücklich, wenn Willi sie um Rat fragte, wenn er von seiner Arbeit erzählte, seinen Schwierigkeiten und sie um ihre Meinung bat.
Diese Stunden waren Giselas beste. Und an diesem Nachmittag, als sie munter die Pedale über dem wohlvertrauten bekannten Weg trat, dachte sie daran, daß sie heute die Schlafzimmer für die Kleinkinder in Angriff nehmen sollte. Sie hatte dem Heim die
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