Neugier ist ein schneller Tod - Neugier ist ein schneller Tod - A Mortal Curiosity
waren – wie ich ihr auch vorher schon hätte verraten können.)
Wo waren sie nur alle?, wie Morris es ausgedrückt hatte. In London herrschte immer rege Geschäftigkeit. In diesem Augenblick, so wusste ich, glänzten die Straßen im Licht der Gaslaternen, und die Bevölkerung des Tages war den Myriaden Bewohnern der Nacht gewichen. Die Luft war kaum jemals frei vom Rattern der Räder und dem Klappern von Schritten, den plötzlichen Rufen, den geflüsterten Unterhaltungen, dem Pfeifen, melodisch oder auch nicht, derer, die unbegleitet nach Hause gingen und sich Mut machten, so gut sie konnten.
Einige dieser nächtlichen Vögel waren aus gänzlich unschuldigen Motiven unterwegs und kamen von der Arbeit oder Etablissements der Unterhaltung oder waren auf dem Weg dorthin. Andere waren, wie ichsehr wohl wusste, auf finstereren und weniger respektablen Pfaden unterwegs. Geschminkte Frauen, viele von ihnen so jung wie Lucy Craven oder gar noch jünger, winkten einladend aus Hauseingängen. Gaslaternen leuchteten aus Tavernen, Speiselokalen und Bordellen. Tunichtgute und Herumtreiber wankten, nachdem sie in den eingangs erwähnten Etablissements um ihre Barschaft erleichtert worden waren, mit leeren Taschen und schmerzenden Schädeln nach Hause. Selbst wenn man auf der Straße niemandem begegnete, kauerte in jeder Seitengasse irgendeine unglückselige, obdachlose Gestalt, oder ein Betrunkener, außerstande, noch einen weiteren Schritt zu gehen, lag, alle viere von sich gestreckt, am Boden. Vielleicht rührten sie sich, wenn ein Constable mit seinem gemessenen Schritt vorüberkam und mit dem Strahl seiner Blendlaterne jede Ecke und jeden Winkel ausleuchtete. Ein Dieb, der die Taschen der Ohnmächtigen durchwühlte, mochte gerade noch davonschlüpfen, bevor die Hand des Gesetzes auf ihn herabsank. Doch man war niemals wirklich und wahrhaft allein. Die große Stadt schlief niemals.
Hier bestand die einzige Aktivität im starken Gegensatz dazu im Unter- und Aufgehen der Sonne. Männer und Frauen standen mit den ersten Sonnenstrahlen aus ihren Betten auf und krochen im letzten roten Schein wieder hinein. Es war, als fürchteten sie die Dunkelheit. Selbst die Wanderer und Heimatlosen fanden irgendwo Schutz und blieben dort, bis die Nacht zu Ende war. Die Bewohner der Dörfer und Häuser hatten ihre Türen und Fenster verrammelt und schliefen. Keine Menschenseele begegnete einem einsamen Nachzügler wie mir auf der Straße. Höchstens ein Wilddieb trieb sich hier draußen in der Dunkelheit herum, der sich aus Angst, entdeckt zu werden, in wohlweislichem Abstand von mir hielt.
Ich kam an Pferden auf einer Wiese zu meiner Rechten vorbei und war dankbar für ihr Schnauben und die Nähe anderer großer, lebendiger Kreaturen. Die Tiere folgten mir auf ihrer Seite der Hecke, bis ich jenseits ihrer Wiese war. Ich hörte, wie sie sich bewegten, und ich konnte sie riechen – selbst die Wärme ihrer Leiber vermochte ich im Gesicht zu spüren. Sie waren neugierig auf mich und wünschten sichwahrscheinlich genauso sehr Gesellschaft wie ich. Ich stolperte weiter, zum einen, weil ich nicht zu erkennen vermochte, wohin ich meine Füße setzte, zum anderen wegen des Portweins, den ich nicht gewöhnt war und der meine Sinne benebelte.
Ich muss sämtlichen Kreaturen unterwegs als ein komischer Kauz erschienen sein, Mensch wie Tier. Hier waren sie an ihrem Platz, und ich war nicht an meinem.
Sie waren mir gleichermaßen fremd wie ich ihnen. Was mich erneut über die Frage nachdenken ließ, wieso ich aus London hierher gerufen worden war.
Lag es daran, dass diejenigen, die hier etwas zählten, einen einheimischen Skandal fürchteten, und dass sie, um ihn zu verhindern, die Angelegenheit so schnell wie möglich aufgeklärt wissen wollten? Oder lag es eher daran, dass sie einen Skandal befürchteten, falls die Fakten durch mich aufgeklärt wurden – und war ich vielleicht sogar hierher gerufen worden, nicht, um Erfolg zu haben, sondern um zu scheitern?
Falls ja, dann hatten sich diese Herrschaften gründlich in mir geirrt.
16. KAPITEL
Inspector Benjamin Ross
Am nächsten Morgen setzte ich die von Lizzie und mir entwickelte Strategie in die Tat um. Ich begab mich frühzeitig zum Kirchhof, um dort die Ankunft der Ladys zu erwarten und weil ich einen Blick auf das Grab von Mrs. Cravens Kind werfen wollte. Ein verwelkender Strauß Wildblumen und Grün lag darauf – ansonsten nichts Auffälliges. Ich wandte mich zur Kirche um und hörte
Weitere Kostenlose Bücher