Neugier und Übermut (German Edition)
staatsbürgerliche Verpflichtung in seiner Rede bei Amtsantritt im Januar 1962 verkündet und in den USA damit die Jugend begeistert. Leider wird sie heute nur noch von einer Minderheit akzeptiert.
In Deutschland identifizieren sich mit diesem Sinnspruch einer Umfrage zufolge gerade einmal ein Fünftel der Befragten, fast die Hälfte lehnt diese Idee ab, während ein weiteres Drittel keine Meinung mehr dazu hat. Und schaut man in die Diskussionsforen im Internet, dann stellen dort viele die erstaunlich naive Frage: Hat der Bürger denn Pflichten gegenüber seinem Land?
Wenn du etwas für dein Land tun willst, wenn du ein Recht haben willst, politisch mitzureden, so sagte ich mir zurück in Bonn, dann musst du dich engagieren. Also bewarb ich mich 1964 bei der nächsten Wahl zum Studentenparlament um ein Mandat. Mein Wahlversprechen war ziemlich naiv: Abschaffung der Testate und besseres Mensaessen. Das Essen in der Mensa war wirklich grässlich, und ich erhielt die zweithöchste Stimmenzahl. Testate wurden irgendwann abgeschafft, das Mensaessen soll auch besser geworden sein. Aber als die Studenten den Wunsch äußerten, den Vorlesungsbetrieb umzugestalten, als sie verlangten, die Hörer mitbestimmen zu lassen, als sie die Demokratisierung des Lehrbetriebs forderten, stießen sie auf harten Widerstand. Die Reform sollte unterdrückt werden. Da begriffen die Studierenden, dass die Krise an den übervollen Universitäten nicht behoben werden kann, solange die Gesellschaft dazu nicht gezwungen wird. Und sie hatten Anfang der sechziger Jahre gerade die Erfahrung gemacht, dass vom »Establishment« nichts so gefürchtet wurde wie der Vorwurf, Nazi gewesen zu sein. Da war es nicht schwer, die Rektoren, Dekane und Professoren zu »entlarven«, die sich im Dritten Reich hervorgetan hatten. Angriffe in den Studentenzeitschriften begannen, die bisher unangetastete Autorität von Professoren zu untergraben.
Unsere Generation sah in der reformunwilligen Universität einen autoritären Abklatsch der »Braunen Universität«, die es durch Fragen nach dem isolierten Verhalten Einzelner zu verurteilen galt, um die »Schuld« der Struktur und der Ideologie der Institution zuzuschieben.
Jetzt also saß ich im Arbeitszimmer des Altphilologen Wolfgang Schmidt, er hatte aus seiner ledernen Aktentasche ein Manuskript hervorgezogen, es vor sich hingelegt, aber zögerte noch, es mir in die Hand zu geben. Er habe es in der vergangenen Nacht, als er vor Aufregung nicht schlafen konnte, auf seiner Schreibmaschine getippt. Leider habe ich sein Papier nie gelesen, aber er hat mir erzählt, worum es darin ging. Er schildert seine Sicht auf die Auseinandersetzung um die Nazi-Vergangenheit des zum Rektor gewählten Germanisten Hugo Moser. Es war eine Auseinandersetzung, in die ich als Student in vorderster Reihe verwickelt war, eine Konfrontation zwischen Bewahrung und Aufklärung, die in aller Härte und mit großer Leidenschaft geführt worden war.
Im Spätherbst 1964, ich war seit kurzem Mitglied des Studentenparlaments, veröffentliche Walter Boehlich, damals Cheflektor beim Suhrkamp-Verlag und Literaturkritiker bei der Zeit , eine Polemik gegen den neu gewählten Bonner Rektor Moser, der als Vierundzwanzigjähriger die Erziehung zum völkischen Menschen propagiert und in seinen Veröffentlichungen noch nach 1945 nationalsozialistische Terminologie hätte anklingen lassen. Obwohl Boehlich in seinem Artikel bemängelt hatte, dass sich die deutschen Universitäten noch neunzehn Jahre nach Ende des Nationalsozialismus weigerten, die Fragen nach ihrer Rolle im Dritten Reich und nach ihrer Schuld zu stellen, und dass sie stattdessen aus falsch verstandener Kollegialität den »Karren laufen ließen«, begriffen die Gremien der Universität Bonn den Artikel lediglich als persönlichen Angriff auf den Rektor.
Drei Tage nach der Veröffentlichung in der Zeit sprach eine Sonderkommission von Professoren, der nicht weniger als fünf Vorgänger des Rektors angehörten, Moser ihr Vertrauen aus. Die nationalsozialistischen Äußerungen Mosers, die Boehlich zitierte, hätten sich nicht über die »zeitbedingte Diktion« und »über das Maß des damals Üblichen und mitunter sogar Notwendigen« hinausbewegt.
Das damals Übliche? Was war das?
Im Studentenparlament stellte ich nun den Antrag, den Feuilletonchef der Zeit , Rudolf-Walter Leonhardt, zusammen mit Walter Boehlich und einigen Professoren zu einer Diskussion über das Verhalten der
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