Neuland
nicht anziehend war, wie sie Fingernägel kaute, es waren nicht die Fingernägel, sondern die trockene Haut um die Fingernägel, und ihr Knie hüpfte so, und bei jedem Gespräch mit ihr musste man von Neuem ihre Schutzmauern abtragen, bis man zur echten Schicht vordrang, und auch dann konnte man sich nicht sicher sein, dass man wirklich angekommen war. Ihm gefiel auch nicht, wie sie sich anzog, sie wählte so schreiende Farben, und er mochte es nicht, dass Inbar, wenn sie Leute trafen, so etwas Bemühtes und Extrovertiertes annahm. Wie bei diesen Medizinstudenten, die mit ihr zusammensaßen. Plötzlich lachte sie laut. Plötzlich interessierte sie sich für Neurologie und berührte immer wieder die Hand von diesem Guy mit dem schicken, schmalen Brillengestell, und der ist ganz geil auf sie, Hurensohn, und gibt ihr Feuer, wo sie doch gestern noch gesagt hat, sie rauche nicht.
Gestern, nachdem sie ihm von ihrem Bruder erzählte, hatte er erste Stiche jenes Sehnens gespürt, das er aus den vielen Nächten vor den Sportnachrichten kannte, doch diesmal war es nicht unbestimmt, diesmal hatte das Sehnen einen eindeutigen Adressaten.
Du bist nur ein bisschen durcheinander, hatte er versucht, sich zu überzeugen, Inbar und du, ihr kommt euch eben etwas näher. Wenn Leute zusammen eine Reise machen und viele Stunden miteinander verbringen, ist das ganz natürlich. Und außerdem, wiederholte er sein Mantra, gehörst du zu der konservativen Partei derer, die nur eine große Liebe im Leben haben.
Doch das Sehnen hatte die ganze Nacht an ihm genagt. So lange hat er kein Ziel für sein Sehnen gehabt, dass er nicht mehr wusste, wie das war, wie beängstigend es sein konnte. Denn bei ihm, anders als bei seinen Freunden von früher, gab es keine Grauzonen, auch nicht früher, als Junggeselle. Ficken und vergessen, das konnte er noch nie. Er war entweder völlig gleichgültig oder das kriechende kühle Glühen erreichte den kritischen Punkt und flammte auf, und dann schoss es aus ihm heraus wie Öl bei einer Bohrung – dann benahm er sich wie der letzte Idiot, entwarf ganze Drehbücher, rasierte sich zweimal am Tag, weil sein Bart plötzlich schneller wuchs, aß zu wenig oder zu viel, verfehlte die Körbe beim Basketball, war gerührt von den seichten Songs von Eyal Golan , vergaß wichtige historische Daten wie das der Wannseekonferenz oder das Datum, an dem der Erste Weltkrieg ausbrach, wollte von jedem hohen Ort, an den er gelangte, runterspringen, nicht um sich umzubringen, sondern, um die Flügel auszubreiten –
Gegen vier Uhr morgens konnte er nicht mehr. Zum ersten Mal seit sie sich in Tumbes getroffen hatten, erlaubte er sich, über sie zu fantasieren. Nur ein einziges Mal, hatte er sich geschworen. Doch in dem Moment, in dem er den Schutzwall, mit dem er den Staudamm geschlossen hielt, einriss, konnte er die Fluten nicht mehr bändigen, und das Schlimmste: Der beste Teil, der erfüllendste Teil der Fantasie war nicht das Ficken mit ihr, sondern die Momente danach. Die Nähe der nackten Körper, die sich nicht genierten. Diese Erschöpfung, in der die Worte, wenn sie überhaupt gesagt wurden, sanfter waren.
Er hatte versucht, sich gute Momente mit Roni in die Venen zu spritzen, eine Art Impfung: Wie sie sich in ihrer Wohnung in Bejt HaKerem zu ihm gebeugt hatte, um ihn das erste Mal zu küssen. Oder: Sie lieben sich an einem verborgenen Ort am Flussufer unterhalb von ihrem Kibbuz. Er fragt (er muss immer die Vorgeschichte kennen): Sag, bin ich der Erste, den du hierher mitnimmst? Und sie antwortet: Wie kommst du denn darauf? Ich komm aus dem Kibbuz. Und einen Moment später sitzt sie auf ihm, nackt, mit feuchten Blättern im Haar, und sagt: Aber du bist der Erste, den ich liebe. Oder: Sie überrascht ihn an seinem ersten Tag in der Schule mit einem Sandwich mit Pastrami und sauren Gürkchen, fährt ihn bis zum Tor des Parkhauses und sagt: Du wirst ein super Lehrer. Er hakt nach, woher weißt du das?, und sie legt ihre Hand auf seine Brust, halb streichelnd, halb ihn in die Zukunft schiebend, und sagt: Das weiß ich einfach. Und natürlich: Er geht durch das Einkaufszentrum neben dem Krankenhaus, mit dem Eltern-Plastikarmband am Handgelenk, vorbei an einem einbeinigen Mann, der bei McDonald’s einen doppelten Hamburger isst, kauft für sie Malzbier und einen Schokoriegel und marschiert zurück in Richtung Krankenhaus – nein, er ist nicht marschiert, geschwebt ist er, dreißig Zentimeter über dem Boden, wegen seines
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