Neuland
warten, bis ein Platz an den Steinen frei wird. Gegenüber, beinah dem Auge verborgen, sitzen auf schwarzen Plastikstühlen zwischen den Säulen einige Talmudstudenten und lauschen ihrem Rabbiner, der den Talmud auslegt, und obwohl Dori für seinen Zettel den letzten Ruheort in den Steinspalten finden und zu Inbar zurückkehren will, zieht es ihn dorthin, wo gelernt wird, und er geht für ein paar Momente zu ihnen, lehnt sich an eine Stützmauer und lauscht dem jungen Rabbiner mit wachem Blick, der geradeauf eine ausdrucksvolle Melodie die Beschreibung vorliest, wie sich Rabbi Jochanan ben Sakkai in einem Sarg aus dem belagerten Jerusalem vor der Zerstörung herausschmuggeln ließ, »und sie trugen ihn hinaus und geleiteten ihn bis Sonnenuntergang, bis sie zu Vespasian, dem Römer, kamen, da öffneten sie den Sarg, und er stellte sich vor Vespasian, und der fragte, bist du Rabbi Jochanan ben Sakkai, was kann ich dir geben? Und Jochanan ben Sakkai sagte, ich erbitte von dir nur die Stadt Javne, dass ich dorthin gehen, meine Schüler unterrichten und die Gebete festlegen kann.« Und hier, sagt der junge Rabbiner und hebt seinen Blick vom Blatt, und für einen Moment meint Dori, er schaue ihm direkt in die Augen, streiten sich unsere Gelehrten. Einige fragen: Warum hat ben Sakkai Vespasian nicht um Jerusalem gebeten? Warum hat er diese Gelegenheit nicht dazu genutzt, sich für die Belagerten in Jerusalem einzusetzen? Andere sagen: Da ben Sakkai um die Stadt Javne und seine Gelehrten bat, war es ihm vergönnt, dort ein neues Judentum ohne Tempel zu errichten, welches die Grundlage für unser heutiges Judentum wurde. Wieder andere fragen: Kann es nicht sein, dass ben Sakkai zu früh aus der Stadt geflohen ist und dass er deshalb vor seinem Tod so weinte und zu seinen Schülern sagte, er sei sich nicht sicher, ob er in den Garten Eden oder in die Hölle kommen werde? Andere wiederum meinen: Ben Sakkai wusste durch göttliche Eingebung, dass die Zerstörung Jerusalems nicht abzuwenden war, und legte mit der Hilfe des Himmels in Javne die Fundamente für den Weiterbestand einer Nation, die nach der Zerstörung ihres Heiligtums in Jerusalem sonst untergegangen wäre.
Dori löst sich von der Stützmauer, er hält es nicht länger aus, und geht an der Klagemauer entlang, bis er eine Lücke zwischen den Menschen und eine Lücke in den Ritzen der Steine findet, in die er den Zettel stecken kann; er verweilt noch einige Sekunden, vergewissert sich, dass die Bitte von Jesús, dem Ladenbesitzer aus Otavalo, nicht wieder auf den Boden fällt; dann geht er zurück, in den Teil unter offenem Himmel, zum Licht, und hinter dem Tischchen mit den Karton-Kippas sieht er Inbar warten –
Sie weiß nicht, dass er sie sieht, sie schaut in eine andere Richtung und führt Haarsträhnen an ihre Nase und riecht daran – Dass man sich manchmal wegen einer einzigen Geste in eine Frau verlieben kann –
Erst als er bei ihr ankommt, dreht sie sich zu ihm, und er legt seine Hand in ihre, und sie sagt, die Kippa, und er nimmt sie ab, steckt sie in die Hosentasche, und die Sonne schickt allerletzte Sonnenstrahlen über das Aish-HaTora Center zu den sechs Jiskor -Sternen darunter, und sie gehen nach draußen, durch das Sicherheitstor des Vorplatzes; beim Gehen spreizt er seine Finger, so dass sie ihre dazwischenschieben kann, und es stört ihn nicht mehr, dass jemand, der ihn kennt, sie so sieht, das macht jetzt auch keinen Unterschied mehr, und sie gehen durch das Dung-Tor aus der Altstadt hinaus und bleiben am Abgrund der Schlucht neben dem Knafeh -Verkäufer stehen. Da stehen sie eine Ewigkeit. Schweigend, Schulter an Schulter.
Siehst du das Meer?, fragt sie ihn schließlich.
Welches Meer?, fragt er und dreht den Kopf zu ihr.
Das Meer von Jerusalem, sagt sie und drückt leicht seine Hand, die in ihrer liegt.
Und er schaut wieder nach vorne. Erst versteht er nicht, wovon sie redet, und sieht kein Meer, nur einen Stand mit Darbukatrommeln und ein Taxi, das mit zwei Rädern auf dem Gehweg parkt – Doch nach und nach geschieht es –
Der Abendwind weht Wellen des Exils und Wellen der Heimkehr über die Welt, Wellen des Fremdseins und Wellen der Nähe – Die Wellen schlagen immer höher wie Druckwellen einer sehr starken Explosion, die eine nach der anderen in den Tiefen der Wüste Judäa geboren werden, auf den die Stadt umgebenden Hügeln ihren Höhepunkt erreichen und sich immer wieder zu seinen und Inbars Füßen auslaufen und dort den feinen
Weitere Kostenlose Bücher