Neumond: Kriminalroman (German Edition)
ganz unten herauf, putzte es so unauffällig wie möglich mit einem Taschentuch ab und ging weiter.
Es gibt 50 000 Hasen, die wolln mir alle einen erzählen.
Er ging weiter und studierte das Speisenangebot, das sich für den Feinschmecker prompt als Albtraum entpuppte: Es gab kaum etwas Vegetarisches und alles schien schon seit Stunden warmgehalten zu werden. »Ein Drama, dass dafür Pflanzen und Tiere sterben mussten.« Er entschied sich für einen Salat und eine Portion Pommes Frites – dabei konnte wohl selbst der schlechteste Koch nicht viel falsch machen …
Es sollte bei dem frommen Wunsch bleiben. Die Salatblätter waren lasch, und die Pommes in uraltem Frittieröl ertränkt worden. Der Name Hexenkessel war eine Beleidigung für jede Hexe! Bei den anderen war die Toleranzgrenze offenbar nicht ganz so niedrig angesetzt. Ohne mit der Wimper zu zucken verputzten sie ihr Essen und wirkten dabei sogar noch fröhlich.
Es gibt 100 000 Schnitten, die haben alle schöne Augen.
Morell stocherte unmotiviert in seinem Salat herum, und als er das Elend auf seinem Teller nicht mehr länger ertragen konnte, stand er auf, um ihn wegzubringen. Gerade als er das Tablett auf dem dafür vorgesehenen Wagen parken wollte, kam ein schmächtiger Mann aus der Küche gelaufen.
»Hat’s nicht geschmeckt?«, wollte der Mann wissen, nachdem er einen kurzen Blick auf den vollen Teller geworfen hatte.
Morell, der beim besten Willen keine Nerven mehr für Diplomatie oder höfliche Notlügen hatte, bedachte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Man sollte den Koch wegsperren«, sagte er. »Das Essen hier ist die reinste Folter.«
Der Mann lief rot an und wollte gerade etwas entgegnen, als ein zweiter, weitaus größerer Kerl neben ihn trat. »Alles klar hier? Gibt es Ärger?« Er taxierte Morell mit einem stechenden Blick.
»Nein Chef. Hier ist nur wieder einmal einer von diesen Möchtegern-Gourmets, die sich über das Essen beklagen.«
Chef? Das musste dann wohl Sepp Rainer, der Ex von Sabine Weigl, sein. Morell betrachtete ihn: Rainer hatte dunkelbraun geröstete Haut, die einen starken Kontrast zu seinem wasserstoffblond gefärbten Haar bildete, dazu glitzerte ein erdnussgroßer Brilli an seinem rechten Ohr: Ein eitler Gockel, so aalglatt wie ein Stück feuchte Seife. In seinen Augen lag ein herablassendes Funkeln. »Der feine Herr ist sich also zu gut für unser Essen.« Er deutete auf Morells Bauch. »Das finde ich jetzt aber schon komisch. Ansonsten scheint er nämlich nichts zu verschmähen.«
Das reichte! Morell reckte sein Kinn trotzig nach vorn, zog den Bauch ein und richtete sich zu seinen vollen 1 , 95 Metern auf. »Passen Sie auf, das ist Beamtenbeleidigung«, sagte er langsam und deutlich. Dabei starrte er Rainer direkt in die blauen Augen und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er meinte, was er sagte.
Sein Auftreten schien den gewünschten Effekt zu erzielen. Dem Wirt war das süffisante Grinsen vergangen, und er wich instinktiv einen Schritt zurück. »Hey, schon gut«, sagte er und hob beschwichtigend die Hände. »Sie verstehen wohl keinen Spaß.«
»Wenn’s ums Essen geht nicht.«
Rainer wagte es doch tatsächlich, die Augen zu verdrehen und eine Braue hochzuziehen.
»Und bei Mord auch nicht«, schickte Morell hinterher.
»Mord?« Rainer beugte sich etwas nach vorn und schnupperte, ob sein fülliger Gast getrunken hatte.
Dieser stemmte die Arme in die Hüften. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie Ärger mit Sabine Weigl hatten.«
»Sabine?« Rainer spuckte den Namen aus, als wäre er eine giftige Frucht. »Ich habe keinen Tau; wovon Sie reden. Die hat sich doch selbst umgebracht.« Er warf das Geschirrtuch, das er in der Hand hielt, lässig über die Schulter und drehte Morell den Rücken zu.
»Halt, mein Freund. Nicht so schnell.« Morell hielt ihn am Oberarm fest.
Der Wirt funkelte ihn böse an. »Wer zur Hölle sind Sie eigentlich, und was wollen Sie von mir?«
»Ich bin Chefinspektor Otto Morell, und ich ermittle im Fall der ermordeten Sabine Weigl.« Er betonte extra das Wort ›ermordet‹.
Rainer wand sich aus dem Griff. »Damit habe ich nichts zu tun«, sagte er und machte Anstände, zurück in die Küche zu gehen.
Morell packte ihn erneut am Arm. »Sie werden jetzt gefälligst mit mir reden.«
»Pah, dazu können Sie mich nicht zwingen.«
»Vielleicht nicht jetzt sofort, aber ich kann in einer Stunde mit einem Durchsuchungsbeschluss wiederkommen.« Morell schaute sich
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