Neumond: Kriminalroman (German Edition)
aufgerissenen Augen an und lief dann wie paralysiert in den Wartebereich, wo sie sich auf den nächstbesten Stuhl plumpsen ließ. »Mord.« Sie griff nach einer Broschüre über Altersdiabetes, die vor ihr auf einem kleinen Tisch lag, und fächerte sich Luft zu. »Bin ich etwa verdächtig?«
»Ich habe nur ein paar Routinefragen. Könnten wir uns vielleicht irgendwo in Ruhe unterhalten?« Morell schielte zu Schwester Helen, die sich so weit wie möglich über den Empfangstresen gelehnt und die Ohren gespitzt hatte.
Schwester Elvira hatte den Wink verstanden und nickte. »Gute Idee«, sagte sie und warf Helen einen bösen Blick zu. »Gehen wir doch in die Kantine – dort gibt es freundliches Personal.« Den zweiten Teil des Satzes hatte sie extra laut ausgesprochen. Dann stand sie auf und ging mit wackligen Beinen voraus.
»Knödelfee und Puddingbauch. Da haben sich ja die zwei Richtigen gefunden«, murmelte Schwester Helen und wandte sich wieder ihren Unterlagen zu.
Die Kantine unterschied sich in keinster Weise von anderen solchen Einrichtungen: Sie war eine Orgie aus Kunststoff, Edelstahl und Neonlicht. Mindestens 30 kleine Plastiktische standen in Reih und Glied nebeneinander und wurden von mehreren großen Kühlregalen flankiert, in denen Sandwichs, Salate, Kuchen und andere Snacks lagen. Das Buffet, an dem zu den Hauptmahlzeiten warmes Essen ausgegeben wurde, war derzeit geschlossen, und so befanden sich auch kaum Menschen in dem Raum. Einzig eine junge Krankenschwester trank an einem der vorderen Tische eine Tasse Kaffee, während sie konzentriert durch ein Modemagazin blätterte.
»Auf den Schreck brauche ich etwas für die Nerven.« Schwester Elvira langte in eines der Kühlregale und holte ein Stück Schwarzwälderkirsch heraus. »Sie auch?«
Morell überlegte kurz und nickte dann. Schwarzwälderkirsch war nie verkehrt.
»Gut, ich bin soweit«, sagte Schwester Elvira, nachdem sie ihren Kuchen halb gegessen und sich wieder etwas gefangen hatte. »Was ist passiert, und was habe ich damit zu tun?«
»Immer schön langsam, und immer der Reihe nach. Fangen wir doch einfach mal mit der Frage an, wie Sie und Frau Weigl zueinander standen.«
»Wir waren Arbeitskolleginnen.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter.«
Morell zog die rechte Augenbraue hoch und schenkte Schwester Elvira einen tadelnden Blick. »Und warum haben Sie beide sich dann mitten in der Nacht vor Frau Weigls Haus angeschrien?«
Sie schaute zum Kühlregal. »Ich glaube, ich könnte gleich noch ein Stück vertragen«, lenkte sie ab. »Wie sieht’s mit Ihnen aus?«
Obwohl es sich um Kantinenessen handelte, war die Schwarzwälderkirschtorte ziemlich gut, und Morell liebäugelte tatsächlich mit einem weiteren Stück. »In der Torte wohnt der Teufel«, besann er sich dann aber eines Besseren und tätschelte seinen Bauch. »Also, warum haben Sie sich gestritten?«
»Na gut«, gab sie nach. »Aber ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich sie nicht umgebracht habe.« Sie hielt drei Finger in die Höhe. »Obwohl ich nicht schlecht Lust dazu gehabt hätte.«
Morell sagte nichts. Er schaute sie nur erwartungsvoll an, während er seine Kuchengabel zum Mund führte.
»Dieses hinterhältige Luder hat meinen Schwager verführt«, platzte es schließlich so laut aus ihr heraus, dass sogar die kaffeetrinkende Krankenschwester sich neugierig umdrehte.
»Mit Ihrem Schwager?« Morell war hellhörig geworden.
Elvira Treiber warf einen Seitenblick auf die andere Schwester und redete erst weiter, als diese sich wieder ihrem Magazin zugewandt hatte. »Ja, mit Klaus Fitz, diesem Deppen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
»Dem Metzger? Ihre Schwester ist also …«
»Ja genau. Meine Schwester ist Helga Fitz.«
Morell lehnte sich zurück und versuchte, irgendeine Art von Ähnlichkeit zwischen der bulligen Metzgersfrau und der fluffigen Krankenschwester zu erkennen. Viele Gemeinsamkeiten fand er nicht. »Interessant«, sagte er. »Und weiter?«
»Da gibt es nicht viel mehr zu erzählen. Das dürre Miststück hat ihm schöne Augen gemacht, und Klaus, dieser Dödel, ist natürlich voll darauf reingefallen. Darum hab ich Sabine mal ordentlich die Meinung gesagt.«
»Und Ihrer Schwester haben Sie nichts gesteckt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich habe ich darüber nachgedacht, aber ich wollte ihr den Kummer ersparen – obwohl sie es nur selten zeigt, hängt sie doch sehr am Klaus. Wer weiß, was sie sich angetan
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