Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
zurückzufahren. Nun würde sie den Weg zu Fuß machen müssen, was sinnlos war, weil sie es auf diese Weise ohnehin nicht mit Vincent aufnehmen konnte. Sobald die Nacht hereinbrach und der volle Mond am Himmel stand, würde er ihr haushoch überlegen sein. Selbst wenn sie ihre Freundinnen noch rechtzeitig erreichte, ohne Rouben und ihre Liebe füreinander stünde es nicht in ihrer Macht, ihn aufzuhalten. Jolin musste sich mit diesem Schicksal abfinden.
»Aber ich werde dich töten, Vincent«, wisperte sie. »Denn als Mensch wirst du nicht weniger verwundbar sein, als ich es bin, und ich freue mich schon jetzt auf den Moment, in dem du erkennst, dass es ein Fehler war, mich am Leben zu lassen.« Lächelnd hob Jolin den Blick zur Decke – und erstarrte, allerdings nur für einen kurzen Moment, dann war sie auch schon aufgesprungen und hatte schützend die Arme über ihr Gesicht geworfen.
Winzige Lichtpunkte flitzten über die Schräge. Sie ballten sich zu unregelmäßigen Flächen zusammen, Jolin rechnete sekündlich mit ihrem Angriff, doch die Lichtflecken blieben an der Wand haften und formten sich dort allmählich zu Buchstaben, Wörtern und Sätzen:
Nur das Haar eines Menschenkinds
ermöglicht dir die Rückkehr
in die Welt des Lichts,
nur das Blut deines Bruders
vermag dich von den Untoten zu erwecken
und ihn selbst für immer in die Finsternis
zu verbannen.
Und nur in einer Frühlingsnacht
des sich erneuernden Mondes kannst du das,
was ihm das Liebste ist,
auf ewig
für dich gewinnen.
Langsam nahm Jolin die Arme herunter. Sie warf einen Blick aufs Bett, um sich zu vergewissern, dass sie nicht dort lag und träumte. Wieder und wieder las sie die Worte, die an der Dachschräge tanzten wie Lichtreflexe, die von der langsam sinkenden Sonne durchs Fenster ins Zimmer hineinprojiziert wurden.
Jolin wirbelte herum – und tatsächlich, dort draußen vor dem Fenster flirrte, gleißend hell, der gleiche Text noch einmal.
»… und nur in einer Frühlingsnacht des sich erneuernden Mondes«, murmelte sie, »kannst du das, was ihm das Liebste ist, auf ewig für dich gewinnen.«
Es ging also gar nicht um heute, um diese Vollmondnacht!
»Ramalia!«, rief Jolin und stürzte zum Fenster.
Der Text fiel auseinander, und als sie sich auf die Zehenspitzen hob, um über die Fensterschräge bis in den Garten hinunterspähen zu können, sah sie, wie Tausende winziger Lichtpunkte zu Boden rieselten und im Gras verloschen.
»Ramalia«, wisperte Jolin. Sie drehte sich um, schloss die Augen und versuchte, sich an den gesamten Text zu erinnern.
»Nur das Haar eines Menschenkinds … ermöglicht dir die Rückkehr in die Welt des Lichts …« Klarisse! Natürlich! Sie war die Erste und Einzige, die Vincent auf dem Burgfest berührt hatte. Er hatte sie im Arm gehalten und sich über ihren Hals gebeugt, gut möglich, dass dabei eines ihrer Haare an seiner Kleidung haften geblieben und mit ihm in die Vergangenheit abgetaucht war. Jolin atmete tief ein und aus. Ja, so musste es gewesen sein! Dann war Klarisse Vincents Tor zu dieser Welt und er tatsächlich derjenige, der ihr die E-Mails geschrieben und mit dem sie sich in der Neumondnacht Anfang März getroffen hatte.
»Nur das Blut deines Bruders vermag dich von den Untoten zu erwecken und ihn selbst für immer in die Finsternis zu verbannen …«, rezitierte Jolin weiter. Dies war der einfachste Teil, Inhalt und Sinn kein Geheimnis mehr für sie, aber im Zusammenhang mit dem Rest des Textes bekam er natürlich eine völlig neue Bedeutung. »Und nur in einer Frühlingsnacht des sich erneuernden Mondes kannst du das, was ihm das Liebste ist, auf ewig für dich gewinnen«, wiederholte Jolin nun laut und klar und öffnete dabei langsam ihre Augen.
Vincent hatte also viel weniger Spielraum, als sie angenommen hatte. Er verwandelte Rouben nicht, um ihn zu quälen oder ihn dazu zu bringen, sie zu töten, sondern einzig und allein, weil er das Blut seines Halbbruders für seine eigene Menschwerdung brauchte. Vincent wollte den Platz, der ihm durch die Prophezeiung versprochen war, endlich einnehmen und am Ende auch noch Jolins Liebe für sich gewinnen.
»Das kannst du vergessen«, flüsterte sie.
Jolin spürte neue Kraft in ihrem Herzen und in ihrem Körper. Die Erkenntnis, dass die Prophezeiung sich nicht wiederholte, ihren Freundinnen überhaupt keine Gefahr drohte und ihr selbst noch ganze zwei Wochen Zeit blieben, um vielleicht doch noch alles zum Guten zu wenden,
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