Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
zuvor.
Sie sah ihn an, und sie sah, wie unvorstellbar er litt, wie sehr er sich dagegen wehrte, ihren Blick zu erwidern, und wie viel Kraft er darauf verwandte, sie sich vom Leib zu halten. Die Kälte, die er verströmte, schmerzte in ihren Knochen und kroch mit jedem Atemzug ein Stück tiefer in ihre Lungen.
Als sich nach einer kleinen unendlichen Ewigkeit schließlich ein schmaler heller Streifen am Himmel hinter dem Ostrand der Stadt erhob, griff Rouben plötzlich nach dem Seil, um den Parachute zu öffnen. Ein Zischen ertönte, als dieser sich von der äußeren Ballonhaut trennte und die warme Luft entwich. Der Ballon begann zu sinken.
Rouben nahm seine Kälte zurück, so dass Jolin sich nun langsam erheben konnte. Sie drückte sich gegen die Korbwand, krallte ihre Hände um den Rand und sah ihn weiter an.
Sie wusste, dass sie ihn damit quälte, aber selbst, wenn sie es gewollt hätte, sie hätte ihren Blick nicht abwenden können. Es war wie ein Sog, ein Rausch, aus dem sie am liebsten nie erwacht wäre.
In der zweiten Nachthälfte hatte der Wind gedreht, so dass sie inzwischen wieder weg von der Stadt und auf den Wald zugetrieben worden waren. Der Ballon machte eine halbe Drehung um seine Hochachse, dann tauchten sie bereits zwischen die Wipfel der Bäume ein, und kurz darauf setzte der Korb auf.
Rouben hielt das Seil noch immer gespannt, damit die Klettverschlüsse des Parachutes sich nicht mit denen des Ballons verbinden konnten und der Korb am Boden blieb.
Unschlüssig sah Jolin ihn an.
»Worauf wartest du noch?«, knurrte er.
»Ich werde dich nicht verraten«, sagte Jolin. »An niemanden. Und ich werde auch deine Seele nicht verraten.«
»Meine Seele!« Er stieß ein zorniges Lachen aus.
»Und ich werde immer nur dich lieben«, sagte Jolin. »Hörst du? Immer nur dich!«
»Jetzt hau schon ab!«, zischte Rouben. Er hob den Blick zum Himmel, der sich von Osten her weiter aufhellte. »Oder willst du, dass ich vor deinen Augen zu Staub zerfalle?«
Jolin presste die Lippen aufeinander. »Noch bist du kein Vampir«, erwiderte sie.
»Die Sonne wird meine Haut verbrennen. An den Narben werden mich meine neuen Verwandten sofort erkennen. Jeder wird wissen, dass ich das Zwielicht war, deren Mutter Schande über sie gebracht hat.« Nun richtete Rouben doch seine Augen auf sie. »Würde dir das besser gefallen?«
In seinem Blick lag ein solcher Hass, dass Jolins Herz ins Stocken geriet. Er meint es nicht so, dachte sie erschrocken. Er kann es nicht so gemeint haben!
»Ich liebe dich«, sagte sie noch einmal. »Mehr als mein Leben.« Dann ließ sie die Decke von den Schultern gleiten und kletterte über die Korbwand. Sie musste sich nicht lange orientieren, um zu erkennen, dass sie wieder auf derselben Lichtung gelandet waren, nur ein wenig unterhalb der Stelle ihres Starts am gestrigen Abend.
Jolin wandte sich in Richtung Stadt und lief los. Auch ohne sich noch einmal umzusehen, wusste sie, dass Rouben den Ballon nun abrüsten und sich anschließend so schnell wie möglich in sein verhasstes Haus retten würde, wo sein Bruder ihn wahrscheinlich bereits erwartete.
Noch zwei Wochen, dachte Jolin. Noch ganze zwei Wochen.
»Wo, zum Teufel, bist du gewesen?« Anna hatte sie direkt vor dem Haupteingang abgefangen, ihre dunklen Augen funkelten vor Zorn. »Wie konntest du mir das antun! Und wie siehst du überhaupt aus!«
Jolin blickte an sich herab. Ihr heller Kapuzenpulli war voller Flecken und hatte mehrere Löcher am Ärmel, und im rechten Bein ihrer Jeans klaffte ein großer Riss, was sie eigentlich längst hätte bemerken müssen, ihr jedoch den ganzen Weg bis zur Schule nicht aufgefallen war. Allerdings erklärte es, warum die Leute, denen sie unterwegs begegnet war, sie so seltsam angesehen hatten.
»Jetzt erzähl mir bloß nicht, du hast dich mit Rouben getroffen!«
Jolin hob den Blick und zuckte die Achseln.
»Ich hätte dich wirklich für vernünftiger gehalten«, sagte Anna kopfschüttelnd.
»Reg dich ab«, erwiderte Jolin. »Ich bin ja wieder da. Und zwar noch vor dem verabredeten Zeitpunkt.«
»Verabredet!« Anna tippte sich an die Stirn, dann griff sie nach Jolins Arm und zog die Freundin vom Haupteingang weg. »So kannst du da jedenfalls nicht reingehen. Und nach Hause auch nicht.«
»Aber ich brauche meine Sachen.«
»Welche Sachen?«
»Meine Tasche und meine Jacke«, sagte Jolin, während sie Anstalten machte, sich von der Freundin zu lösen und ins Gebäude zu laufen.
»Jetzt
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