Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
versteckt hielt, hat mir einen Zettel hinterhergeworfen.« Langsam zog sie ihre Hand aus der Manteltasche. »Diesen hier.«
Roubens Stirn legte sich in Falten. Zögernd griff er nach dem Zettel und betrachtete ihn nachdenklich von allen Seiten. »Der wurde aus einem Buch herausgerissen«, sagte er schließlich.
»Es ist die gleiche Schrifttype wie in der Prophezeiung und in den Botschaften, die Ramalia mir während der Burgparty auf den Laptop geschickt hat«, sagte Jolin.
Rouben schüttelte den Kopf. »Das heißt gar nichts.«
»Du glaubst also nicht, dass mir damit jemand etwas über dich mitteilen will?«, fragte Jolin und deutete auf den Zettel.
»Das habe ich nicht gesagt.« Rouben sah sie traurig an. »Ein Wesen«, sagte er. »Ein Wesen … und ich dachte …« Er presste die Lippen zusammen und blickte zur Decke hinauf.
Jolin trat an ihn heran und legte zaghaft ihre Hand auf seinen Unterarm. »Und wenn es nicht aus einem Buch ist …«, begann sie. »Wenn jemand aus dem dunklen Clan, jemand, der neidisch auf dich, auf uns ist, sich diesen Text ausgedacht hat, wenn das alles frei erfunden ist …« Ihre Blicke trafen sich. »… dann bist du nicht einfach bloß ein Wesen. Für mich sowieso nicht«, fügte sie leise hinzu.
»Du hast recht«, sagte Rouben. »Es gibt eine Erklärung.« Er schob den Zettel in ihre Umhängetasche und nahm ihre Hand. »Komm. Ich muss nämlich auch mit dir reden.«
Ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln, eilten sie durch das Gebäude auf den Hintereingang zu, wo sie allerdings von Klarisse, Rebekka und Susanne aufgehalten wurden, die ihnen voller Enthusiasmus verkündeten, dass sie ihnen beiden, vor allem aber Jolin zu Ehren, eine Party organisieren wollten.
»Keine Party«, sagte Jolin.
»Keine gute Idee«, bestätigte Rouben. »Auch wenn es lieb gemeint ist, aber von Partys haben wir erst mal so ziemlich die Nase voll.« Er zuckte bedauernd die Schultern und zog Jolin weiter.
»Aber ich schwöre!«, rief Klarisse ihnen nach. »Ich werde mich ganz bestimmt nicht wieder …«, sie stockte kurz, bevor sie ihren Satz beendete, »… in Lebensgefahr begeben …«
»Als ob sie das kontrollieren könnte«, sagte Rouben und lächelte schief.
»Was meinst du?«, fragte Jolin.
»Klarisse. Als ob sie darüber entscheiden könnte, wann ihr Leben zu Ende ist.«
»Was redest du denn da?«
»Ach, nichts«, sagte Rouben. »Vergiss es.«
Er entriegelte die Schlösser des Alfas über Funk, öffnete die Beifahrertür und wartete, bis Jolin eingestiegen war. Dann lief er um den Wagen, sprang hinters Steuer, startete den Motor und bog zügig auf die Straße ab.
Für Jolins Geschmack fuhr er viel zu schnell, sie sagte aber nichts, sondern starrte genau wie er stumm zur Frontscheibe hinaus und wartete geduldig auf die von ihm angekündigte Erklärung.
»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte sie schließlich, nachdem Rouben eine nordöstliche Richtung eingeschlagen hatte.
»Zum Friedhof.«
»Zum Friedhof? Aber …«
»Ich bin noch nie am Grab meines Vaters gewesen«, sagte Rouben.
»Ts! Und du bittest mich, nicht in der Vergangenheit herumzuwühlen«, erwiderte Jolin kopfschüttelnd.
Rouben bremste ab und lenkte den Wagen an den Straßenrand. »Wenn du nicht willst … Ich dachte bloß, weil du mit ihm befreundet warst … damals, als Kind.«
Jolin nickte. »Ist schon okay. Fahr weiter. Hauptsache, du erklärst mir alles.«
Es dauerte eine Weile, bis sie das Grab gefunden hatten. Es lag ein wenig abseits in einer kleinen Senke, die von einer Gruppe Birken umgeben war, und bestand aus einem schlichten schwarzen Stein, in dem der Name Harro eingraviert war, und einem Meer von Schneeglöckchen, die herzförmig in den vom Winter noch braunen Rasen gepflanzt waren.
»Das gibt es doch gar nicht!«, platzte Jolin heraus. »Ich hätte nie gedacht, dass die Stadt für einen Obdachlosen so viel Geld ausgibt!«
»Nicht die Stadt, Jol«, entgegnete Rouben. »Das hat natürlich meine Mutter veranlasst.«
»Sie muss ihn wirklich sehr geliebt haben.«
»Ja, das hat sie. Obwohl sie eine gefühllose Untote war.«
»Vampire sind gefühllos?«, fragte Jolin verwundert.
»Nein, sind sie nicht«, gab Rouben zu. »Im Gegenteil: Sie sind sogar ganz groß darin, wenn es um Hass und Rache geht. In dieser Hinsicht übertreffen sie die Menschen um ein Vielfaches. Was Ramalia für Harro empfunden hat, ist in der dunklen Welt so selten, dass es eigentlich nicht vorkommt. Und wenn
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