Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

sein? Sie hat mir erzählt, die Schüler dürften das Gelände nicht verlassen.“
    Linda lachte spöttisch. „Ja, nun ja, die Jugendbrigade bekommt da Sonderrechte.“
    Leonards Magen drehte sich ihm um und ihm wurde so schwindelig, dass er beinahe auf seine Knie fiel. Jugendbrigade? Alles, was sie Natalia während der letzten vierundzwanzig Stunden erzählt hatten: die Ortungssender, die gefälschten Ausweise, die Geheimfächer im Wagen. Die ganzen Details über ihren Fluchtplan, mal ganz abgesehen von fast allem, was sie über die Regierung und den CARS–Betrug herausgefunden hatten. Natalia wusste von alledem. Natalia hatte sich ihr Vertrauen erschlichen und genügend belastende Beweise gesammelt, um ihre Eltern lebenslänglich hinter Gitter zu bringen. Was hatte Alinas Freundin, Brenda, ihr noch mal gesagt? Traue niemandem. Besonders nicht deinen Kindern.
    „Oh mein Gott“, stöhnte Leonard und hielt es nicht mehr für notwendig, auf der Hut zu sein. Ohne Vorwarnung überwältigte Leonard der Geruch von Schweiß und alten Putzlappen. Er taumelte etwas nach hinten und legte seinen Kopf in eine Hand. „Natalia hat mir nie erzählt, dass sie in der Jugendbrigade ist.“
    Linda gab einen vergnügten Aufschrei von sich. „Natalia? Natalia ist nicht in der Jugendbrigade.“
    „Aber du hast doch gesagt—“
    „Ich hab von Garrett geredet.“
    „Garrett?“
    „Garrett kam und hat Natalia aus dem Matheunterricht geholt.“
    „Du warst da?“
    Linda seufzte wie ein typisch genervter Teenager. „Ja, ich war da. Deshalb weiß ich es ja.“
    „Warum würde er sie aus dem—?“, begann Leonard, aber die Antwort auf seine Frage drängte sich ihm sofort auf. Er wartet nicht bis Freitag.
    Leonard sah Linda scharf an, aber das Mädchen mied hartnäckig seinen Blick. Stattdessen begutachtete sie aufmerksam ihre Fingernägel, während ihr Gesicht von Sekunde zu Sekunde röter wurde.
    „Du weißt, wo er sie hingebracht hat, oder, Linda?“
    Das Mädchen schüttelte mehrmals hastig den Kopf, biss sich dabei jedoch nervös auf die Lippe.
    Leonard fasste sie an der Schulter, beugte sich zur Seite und versuchte so, ihren Blick auf sich zu ziehen – diese junge Dame war zum Sex gezwungen worden, bevor sie überhaupt bereit gewesen war, und wurde damit in das Zuchtprogramm der Neuen Richtung getrieben.
    Von meinem eigenen Sohn geschändet , folgerte Leonard entsetzt, als er an die Unterhaltung dachte, die er Montagnacht im Hinterhof mitbekommen hatte. Ich hab deine Freundin schon flachgelegt. War das der Grund dafür gewesen, dass Linda seiner Tochter aus dem Weg gegangen war?
    „Du weißt es, weil du auch schon da gewesen bist… mit Garrett.“
    Linda rollte ihre Lippen nach innen, bis die Haut um ihren Mund herum bleich wurde. Sie versuchte, ihre Tränen wegzublinzeln. Plötzlich schüttelte sie Leonards Hand grob von ihrer Schulter und sah ihn angewidert an. „Ich nehme an, jetzt wollen Sie mal ran?“
    „Nein, Linda, ich würde nie… Es tut mir so leid, dass dir mein Sohn das angetan hat.“
    Ihre Stimme zitterte. „Er ist kein netter Junge, wissen Sie das? Von all den Jungs, die…“ Linda schloss ihre Augen, als ob die gesamte schmutzige Angelegenheit verschwinden könnte, wenn sie sich einfach weigerte, sie zu öffnen. Der schmerzverzerrte Gesichtsausdruck des Mädchens veranlasste Leonard, sich wieder auf die Dringlichkeit der gegenwärtigen Situation zu konzentrieren.
    „Wo hat Garrett Natalia hingebracht? Zu irgendwem nach Hause?“
    Linda sah weg.
    „Sie wird mit einem Asiaten verkuppelt, richtig?“
    Linda riss die Augen auf. „Ja. Dishi. Woher wissen Sie das?“
    „Ist Dishi auch mit Garrett mitgegangen?“
    „Das weiß ich nicht. Er ist nicht in unserer Matheklasse.“
    Leonard nahm tief Luft und versuchte, ruhig zu bleiben. „Hör zu, Linda, weißt du, wo sie hingehen würden?“
    Sie starrte ihn ungläubig an. „Ist Ihnen klar, was die mit mir anstellen, wenn ich Ihnen das sage?“
    Leonard packte sie an beiden Armen und sie verzog ängstlich das Gesicht. Ihr Unbehagen interessierte ihn nicht. Er schüttelte sie leicht. „Wo hat er sie hingebracht?“, fragte er erneut.
    „Ins Camry Motel. Zimmer 101 oder 103.“ Sie befreite sich aus seinem Griff, drehte sich um und rannte den Tränen nahe den Korridor hinunter.
    Das Camry Motel.
    Leonard zog Alinas handgezeichnete Karte aus seiner Tasche. Das Camry Motel war einer der Orientierungspunkte gewesen, die sie benutzt hatte, damit Leonard den