Neuromancer-Trilogie
selbst oder miteinander herumzumachen. Bobby erinnerte sich, dass er mit dreizehn in Brandi verliebt gewesen war, das Girl mit der blauen Gummihose. Jetzt schätzte er die Projektionen in erster Linie wegen der Illusion von Raum, die sie in das kleine, notdürftig eingerichtete Zimmer zauberten.
»Irgendwas ist passiert, verdammte Scheiße«, sagte er, während er eine schwarze Jeans und ein fast sauberes Hemd anzog. Er schüttelte den Kopf. »Aber was? Was , zum Teufel?« Spannungsspitzen im Netz? Irgendwas Zufälliges bei der Fission Authority? Vielleicht hatte die Basis, in die er hatte eindringen wollen, gerade irgendeine komische Störung gehabt oder war aus einer anderen Richtung angegriffen worden … Aber er hatte das Gefühl, dass er jemandem begegnet war, jemandem, der … Ohne es zu merken, hatte er flehend die rechte
Hand ausgestreckt, mit gespreizten Fingern. »Fuck!«, sagte er. Die Finger ballten sich zur Faust. Dann kam es zurück: zuerst das Gefühl von etwas Großem, wahrhaft Großem, das durch den Cyberspace nach ihm gegriffen hatte, und dann die Mädchen-Impression. Ein braunhaariges, schlankes Mädchen, das in einer seltsam hellen Dunkelheit voller Sterne und Wind kauerte. Aber als er mit seinen Gedanken danach griff, entglitt es ihm.
Hungrig schlüpfte er in seine Sandalen und ging zur Küche, wobei er sich mit dem feuchten Handtuch die Haare rubbelte. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer bemerkte er die Kontrollampe am EIN-Schalter des Ono-Sendai, die ihn vom Teppich aus anstrahlte. »O Scheiße!« Er stand da und saugte an den Zähnen. Das Ding war noch eingesteckt. War es möglich, dass es noch mit der Basis verbunden war, die er knacken wollte? Konnten die wissen, dass er nicht tot war? Er hatte keine Ahnung. Eins stand allerdings fest: Sie hatten seine Nummer. Garantiert. Er hatte sich nicht mit den Kinkerlitzchen aufgehalten, die sie daran gehindert hätten, den versuchten Run zurückzuverfolgen.
Sie hatten seine Adresse.
Der Hunger war vergessen, als er auf dem Absatz kehrtmachte, ins Bad flitzte und in seinen nassen Kleidern wühlte, bis er seinen Kreditchip fand.
Er hatte zweihundertzehn Neue Yen, die im hohlen Plastikgriff eines Wechselschraubenziehers steckten. Nachdem er Schraubenzieher und Kreditchip in der Jeans verstaut hatte, schlüpfte er in seine ältesten, schwersten Stiefel und zog ungewaschene Kleidung unter dem Bett hervor. Er förderte eine schwarze Segeltuchjacke mit mindestens einem Dutzend Taschen zutage. Eine davon war ein großer Beutel unten am Rücken, eine Art integrierter Rucksack. Unter seinem Kopfkissen
lag ein japanisches Klappmesser mit orangefarbenem Griff; das wanderte in eine schmale Tasche im vorderen Teil des linken Ärmels.
Die Traumgirls schalteten sich ein, als er das Zimmer verließ. »Bobby, Boobby, komm zurück und spiel mit uns …«
Im Wohnzimmer riss er den Stecker des Ono-Sendai aus dem Hitachi, rollte das Glasfaserkabel auf und stopfte es in eine Tasche. Ebenso verfuhr er mit den Troden, dann packte er den Ono-Sendai in die Rückentasche der Jacke.
Die Gardinen waren noch zugezogen. Eine neue, freudige Erregung überkam ihn. Er ging weg. Er musste weg. Schon hatte er die jämmerliche Zuneigung vergessen, die sein kleiner Zusammenstoß mit dem Tod ausgelöst hatte. Vorsichtig teilte er die Gardinen und spähte durch den daumenbreiten Spalt hinaus.
Es war später Nachmittag. In wenigen Stunden würden die ersten Lichter in den dunklen Klötzen der Projects angehen. Big Playground lag da wie ein Meer aus Beton; am anderen Ufer erhoben sich die Projects, riesige, geradlinige Bauten, die durch wahllos aufgesetzte, nachgerüstete Wintergärten, Fischbecken und Solarheizungsanlagen sowie die allgegenwärtigen improvisierten Drahtschüsseln aufgelockert wurden.
Two-a-Day war jetzt irgendwo da droben und schlief in einer Welt, die Bobby nie gesehen hatte, der Welt einer Sozialarcologie. Two-a-Day kam herab, um Geschäfte zu machen – in erster Linie mit den Hotdoggern von Barrytown -, und ging dann wieder rauf. Für Bobby hatte es da oben immer toll ausgesehen. Da tat sich abends was auf den Balkonen; zwischen rotglühender Holzkohle tollten kleine Kinder in Unterwäsche herum wie die Äffchen – so winzig, dass man sie kaum erkennen konnte. Manchmal, wenn der Wind drehte, legte sich Bratgeruch über Big Playground, und zuweilen sah man einen Ultralight von einer verborgenen Dachlandschaft hoch droben
starten. Und ständig der Rhythmussalat aus
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