Neuromancer-Trilogie
Werdegang ins Bewusstsein treten, vielleicht auch der Name einer Geliebten, der Duft ihres dichten roten Haars im Sonnenlicht, das durch …
Er setzte sich rasch auf, so dass die Kunststoffsohlen seiner Schuhe aufs rostige Deck knallten. Er hatte immer noch den Parka an, und die Smith & Wesson in der Seitentasche schlug unsanft gegen seine Hüfte. Es würde sich wieder geben. Mitchells psychische Fährte würde sich ebenso verlieren, wie sich die spanische Grammatik im Lexikon nach jeder Benutzung verflüchtigte. Er hatte ein Dossier des Sicherheitsdienstes von Maas in sich aufgenommen, das ein empfindungsfähiger Computer zusammengestellt hatte, mehr nicht. Er steckte das Biosoft wieder in Conroys kleinen Beutel, strich mit dem Daumen den Klettverschluss zu und hängte sich die Kordel um den Hals.
Das Geräusch der Wellen, die gegen die Bohrinsel schwappten, drang an sein Ohr.
»He, Boss«, sagte jemand hinter der braunen Militärdecke, die den Eingang zum Schlafraum verschloss, »Conroy sagt, es wird Zeit, dass du die Truppe inspizierst. Danach fliegst du mit ihm woandershin.« Oakeys bärtiges Gesicht lugte herein. »Ich würde dich sonst nicht wecken.«
»Ich hab nicht geschlafen.« Turner stand auf. Wie im Reflex massierte er die Haut um die implantierte Buchse.
»Schade«, sagte Oakey. »Ich hab Derms, die legen dich echt flach. Genau’ne Stunde lang, dann so’n richtiger Muntermacher, der dich wieder hochbringt, und du bist voll da, ungelogen …«
Turner schüttelte den Kopf. »Bring mich zu Conroy.«
5
Der Job
Marly nahm sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel mit Grünpflanzen in schweren Messingtöpfen, dessen Korridorböden wie abgegriffene Marmorschachbretter gefliest waren. Der Aufzug war ein verschnörkelter, vergoldeter Käfig mit Rosenholztäfelung, in dem es nach Zitronenöl und Zigarillos roch.
Ihr Zimmer lag im vierten Stock. Ein einziges großes Fenster, das man tatsächlich noch aufmachen konnte, ging auf die Straße hinaus. Als der lächelnde Hotelpage gegangen war, sank Marly in einen Sessel, dessen Plüschbezug angenehm auf den gedämpften belgischen Teppich abgestimmt war. Sie öffnete die Reißverschlüsse ihrer alten Pariser Stiefel zum letzten Mal, stieß sie von sich und betrachtete das Dutzend glänzender Tragetaschen, die der Page auf dem Bett arrangiert hatte. Morgen, dachte sie, würde sie Gepäck kaufen. Und eine Zahnbürste.
»Ich hab einen Schock«, sagte sie zu den Taschen auf dem Bett. »Ich muss aufpassen. Mir kommt alles so unwirklich vor.« Sie schaute nach unten und sah, dass ihre Strümpfe an den Zehen durch waren. Sie schüttelte den Kopf. Ihre neue Handtasche lag auf dem weißen Marmortisch neben dem Bett; sie war schwarz, aus Rindsleder gefertigt, das dick und
weich wie flämische Butter gegerbt war. Sie hatte mehr gekostet, als sie Andrea für einen Monat Miete geschuldet hätte, aber das galt auch für eine einzige Übernachtung in diesem Hotel. In der Handtasche waren ihr Pass und der Kreditchip, den sie in der Galerie Duperey bekommen hatte. Er war auf ein Konto ausgestellt, das bei einer Orbitalfiliale der Nederlands Algemeen Bank auf ihren Namen eingerichtet worden war.
Sie ging ins Bad und betätigte die glatten Messinghebel der großen weißen Badewanne. Heißes, mit Kohlensäure angereichertes Wasser strömte durch einen japanischen Filter. Das Hotel stellte Badesalze, Cremes und Duftöle zur Verfügung. Sie leerte eine Tube Öl in die volllaufende Wanne und fing an, sich auszuziehen. Es gab ihr einen Stich, als sie ihre Sally Stanley hinter sich warf. Bis vor einer Stunde war die ein Jahr alte Jacke ihr liebstes Stück und wohl auch ihr teuerster Besitz gewesen. Jetzt war sie ausrangiert, und die Reinemachefrauen konnten sie mitnehmen. Vielleicht würde sie auf einem der Flohmärkte der Stadt landen, wo sie als Kunststudentin auf Schnäppchenjagd gegangen war …
Die Spiegel beschlugen und liefen an, als sich der Raum mit wohlriechendem Dampf füllte; ihr nacktes Spiegelbild trübte sich. War es wirklich so einfach? Hatte Vireks dünner goldener Kreditchip sie aus ihrem Elend in dieses Hotel verpflanzt, wo die Handtücher weiß und dick und flauschig waren? Sie empfand einen seelischen Taumel, als stünde sie zitternd am Rand eines Abgrunds.
Sie fragte sich, wie mächtig Geld eigentlich sein konnte, wenn man genug davon hatte, wirklich genug. Vermutlich konnten nur die Vireks dieser Welt das wirklich wissen, aber sehr wahrscheinlich waren sie
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